Süddeutsche Zeitung

US-Medien im Wahlkampf:Eine Szene, zwei Blickwinkel

Die Fernsehsender in den USA wollen den Sorgen ihrer Zuschauer eine Stimme geben - links wie rechts. Was aber, wenn sie vor allem Ängste manifestieren?

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Tucker Carlson war in Bestform. Als der Moderator des TV-Senders Fox News zuletzt über die Proteste gegen Polizeigewalt und Rassismus in den USA sprach, lieferte er ein rhetorisches Meisterwerk ab. Carlson kam sofort zum Punkt und sagte - wie immer mit besorgter Wutfalte zwischen den Augen - über die Demonstranten: "Gewalttätige junge Männer werden das Sagen haben. Die werden dann die Regeln aufstellen - einschließlich denen in euren Gegenden. Sie werden machen, was sie wollen; ihr werdet tun, was sie euch befehlen. Niemand wird sie aufhalten. Ihr werdet nicht hier leben wollen, wenn das passiert."

Rüber zu MSNBC, wo Rachel Maddow fast gleichzeitig und mit der gleichen Besorgnisfalte sagt: "Die Soldaten sind bewaffnet, sie tragen Schutzausrüstung und Bajonette. Helikopter führten ein Spektakel der Stärke auf - das ist eine Taktik des Militärs bei Schlachten, um Aufständische zu zerstreuen. Es ist der gruselige Beweis für die Lust dieses Präsidenten, seit dem ersten Tag im Amt genau das sehen zu wollen. Es hat dreieinhalb Jahre lang gedauert, aber endlich hat er das Militär auf den Straßen. Wir müssen uns bemühen, unsere Städte als Heimat zu sehen und nicht als Kriegsgebiete."

Was geht einem durch den Kopf, wenn man eines der beiden Statements hört - die, wohlgemerkt, den gleichen Tag, die gleichen Situationen beschreiben? Klingt, je nach Perspektive, die eine Person vernünftig und die andere verrückt?

Carlson und Maddow wollen den Sorgen, vor allem aber den Ängsten ihrer Zuschauer eine Stimme geben - aber klingt es nicht so, als würden sie diese Sorgen und vor allem die Ängste erst in den Köpfen ihrer Zuschauer manifestieren?

Man könnte über die Illusion von Objektivität im Journalismus debattieren und darüber, dass die drei größten Nachrichtensender der USA für sich reklamieren, den Zuschauern ausschließlich Fakten zu präsentieren - und dann zur gleichen Zeit und über die gleiche Situation (die Lage in der Hauptstadt Washington) diese Zeilen am unteren Bildschirmrand einblendeten: "Proteste mit großer Beteiligung in Washington, Ausgangssperre nach hinten verlegt" (CNN), "Friedliche Proteste in Städten überall in den Vereinigten Staaten" (MSNBC), "Attacken gegen die Polizei während landesweiter Krawalle" (Fox News).

Das jedoch würde zu kurz greifen, denn: Es ist Wahljahr, und es gehört zur Tradition in amerikanischen Medienhäusern, zumindest in Kommentaren und TV-Monologen die Neutralität aufzugeben und eine Wahlempfehlung auszusprechen. Die New York Times etwa tut das seit 1860 (sie riet zur Wahl von Abraham Lincoln). Es sollte jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass die Zeitung seit Dwight D. Eisenhower im Jahr 1956 keinen Republikaner mehr empfohlen hat und dies auch in diesem Jahr nicht tun dürfte.

Es ist jedoch auch nicht so, dass ein Großteil der Amerikaner nun denkt, vor vier Jahren einen Fehler gemacht zu haben. Daran ändert die Ignoranz Donald Trumps während der Pandemie wenig, genauso wie der Tod des Afroamerikaners George Floyd in Minneapolis und Rayshard Brooks in Atlanta. Ein Blick auf die Umfragen zeigt: Ja, Herausforderer Joe Biden liegt vorne - in etwa so, wie Hillary Clinton 2016 vorne gelegen ist.

Es kommt in der Politik mittlerweile, das haben die Wahl 2016 und das Comeback von Biden bei den Vorwahlen in diesem Jahr gezeigt, auf das im Sport so oft beschworene Momentum an: diesen einen Moment, in dem eine Veranstaltung kippt oder entschieden wird. Das Coronavirus ist so ein Momentum-Moment, die Proteste ebenfalls - und die TV-Sender sind in diesen Tagen ganz besonders auf ihre jeweilige Perspektive ausgerichtet.

MSNBC zum Beispiel schickt seine Reporter gerne zu den Protestierenden, die auffällig häufig sehr jung und sehr weiß sind, Schilder mit positiven Botschaften in die Luft halten und Sachen sagen wie, dass sie sich friedlich für gesellschaftlichen Wandel einsetzen würden und nur Angst vor der Polizei hätten. Im Hintergrund: Polizisten in Kampfmontur.

Bei Fox News nicht zu sehen: Die Waffen der Beamten

Fox News positioniert die Kamera im exakt gleichen Moment hinter Polizisten und filmt über deren Schultern. Nicht zu sehen: Die Waffen der Beamten. Sondern: Schilder mit Aufschriften wie "Fuck the Police" und Demonstranten, die wütend brüllen oder gar randalieren.

Es ist die gleiche Szene, nur aus verschiedenen Perspektiven, und die Botschaft an die Zuschauer könnte unterschiedlicher kaum sein. Beide Versionen werden nicht nur in den TV-Sendungen gezeigt, sondern millionenfach auf sozialen Netzwerken geteilt - denn, wie der Rapper Killer Mike kürzlich sagte: "Wenn Twitter das ungeliebte Herz der öffentlichen Debatte in Amerika ist, dann sind die Kabelsender seine Aorta, die Angst und Wut in den Körper pumpt."

Andere Medien sind in diesem Bild die Arterien, wenn sie zum Beispiel die Twitter-Einträge des US-Präsidenten zitieren und in jede Faser dieses Körpers transportieren. Oder wenn die New York Times am Memorial Day - einem Feiertag, an dem der Gefallenen gedacht wird - auf der Titelseite die Namen von Coronavirus-Toten veröffentlicht, dann ist das auch eine deutliche Botschaft an Trump, der sich davor zum Kriegspräsidenten ausgerufen hatte.

Selbst das nichtkommerzielle Hörfunknetzwerk NPR, ansonsten mit Schweizer Neutralität gesegnet, spottete mit einem Wortspiel auf die Pläne von Trump, gegen die Proteste das Militär einzusetzen: "Show force" bedeute zwar "Stärke zeigen", bei Trump sei es eher eine "Ausstellung der Soldaten".

Mit der Neutralität ist es spätestens jetzt vorbei - es geht darum, wer im November die Wahl gewinnen wird und was das für TV-Sender und andere Medien bedeuten wird.

Wie und was sie senden, dafür ist nicht Altruismus oder ein gesellschaftlicher Auftrag entscheidend: Sie sind gewinnorientierte Unternehmen. Pandemie und Proteste bescheren ihnen grandiose Einschaltquoten und Klickzahlen.

CNN überholt MSNBC links

CNN hat bemerkt, dass es in der Mitte zwischen Fox News und MSNBC nichts zu holen gibt, weil es kaum noch eine Mitte gibt in diesem Land. Also wurden die Primetime-Moderatoren Chris Cuomo und Don Lemon zu Trumps bissigen Chefkritikern und überholten so die MSNBC-Konkurrenten Maddow und Chris Hayes. Fox News rückt indes, auch nach Kritik von Trump, noch ein bisschen näher an den Präsidenten heran.

Es geht auch für die TV-Sender ums Gewinnen, sie müssen bei den Zuschauern punkten. Und das können sie derzeit am besten mit spektakulären Bildern und markigen Statements. Was man allerdings bedenken sollte: Die Präsidentschaftswahl findet erst in fünf Monaten statt.

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