Interview am Morgen: Pressefreiheit in Belarus:"Für diese Arbeit kann man ins Gefängnis kommen"

Jelena Tolkatschowa

"Die Presse ist heilig" - Jelena Tolkatschowa (M.) nimmt beim Protest für einen inhaftierten Kollegen den belarussischen Innenminister beim Wort.

(Foto: Alexandra Boguslawskaja)

Die belarussische Reporterin Jelena Tolkatschowa erzählt, wie die Sicherheitskräfte bei den Massenprotesten gegen sie und ihre Kollegen vorgehen. Und warum sie zuletzt immer ein Paar extra Socken mit zur Arbeit gebracht hat.

Interview von Silke Bigalke

Jelena Tolkatschowa, 31, ist politische Journalistin in Belarus - in einem Land also, in dem Politik seit 26 Jahren von einem einzigen Mann bestimmt wird: von Machthaber Alexander Lukaschenko. Seit die Belarussen in Massen gegen Lukaschenko auf die Straße gehen, ist Tolkatschowas Arbeit interessanter, aber auch viel riskanter geworden. Nun haben die Behörden der Nachrichtenseite Tut.by, für die Tolkatschowa arbeitet, auch noch den offiziellen Pressestatus entzogen. Deshalb kann sie nicht mehr persönlich von den Protesten berichten.

SZ: Wie sehr hat sich Ihr Job in den vergangenen Monaten verändert?

Jelena Tolkatschowa: Die Arbeit nimmt jetzt sehr viel mehr Zeit in Anspruch. Es fällt mir schwer, mein Privatleben zu planen. Das war früher schon nicht einfach und ist jetzt doppelt so schwierig: Man weiß nicht, wo man morgen ist, ob man nach einer Protestaktion nach Hause kommt. Wenn man festgenommen wird, weiß man nicht, wie lange man festsitzt. Meine Kollegen und ich planen nicht langfristig. Mein Kollege weiß nicht, ob er in einer Woche Urlaub machen kann. Wenn man ihn festnimmt, werden seine Reisetickets ungültig.

Wie viele Kollegen haben Sie im politischen Ressort?

Wir haben keine politische Redaktion, mit Politik bin nur ich beschäftigt. Aber seit dem Wahltag am 9. August berichtet die ganze Redaktion über Politik. Jeder Journalist, der früher über Kultur oder Sport berichtet hat, schreibt jetzt über Politik, weil auch Kulturschaffende und Sportler festgenommen werden. Insgesamt arbeiten in der Redaktion mehr als 60 Menschen. Tut.by ist eine der größten Redaktionen unter unabhängigen Medien in Belarus.

Mit welchen Gefühlen gehen Sie als Reporterin zu den Protesten?

Die Proteste sind anders geworden, vor allem wegen der Zahl der Teilnehmer. Aber sie sind nach wie vor friedlich. Die Menschen wollen nicht, dass sich der Konflikt verschärft. Sie wollen sich nicht radikalisieren, obwohl die Behörden alles unternehmen, um sie dazu zu bewegen. Das ist der große Vorteil der Belarussen, sie sind relativ ruhig. Die Stimmung bei diesen Demonstrationen ist beispiellos. Die Leute kommen gut gelaunt, gutmütig, man lächelt immer, bringt kreative Plakate mit. Die Menschen leisten nie Widerstand, sie werden abgeführt und danach verurteilt. Trotzdem geben sie nicht auf. Dieser Zusammenschluss, die Stärkung der Gesellschaft, die da vor unseren Augen abläuft, ist eine kolossale Geschichte. Ich bin sehr stolz auf die Belarussen.

Gehen Sie ohne Angst zu den Demos?

Ich bereite mich gedanklich jetzt besser vor. Noch im Juni und Juli hatte unser Presseausweis eine Bedeutung. Nach dem 9. August wurde klar, dass unsere blauen Pressewesten für die Sicherheitskräfte eher ein Signal sind. Sie warnen uns, dass wir nicht näher als 50 Meter an die Demonstranten herankommen dürfen. Ansonsten werden wir wegen eines Gesetzesverstoß vor Gericht gestellt. Wer diese 50 Meter misst, ist rätselhaft. Wir haben in unseren Rucksäcken warme Kleidung und Socken, Zahnbürsten für den Fall einer Festnahme. Ich kann aber nicht sagen, dass ich Angst habe. Ich mache meine Arbeit. Es ist leider in unserem Staat so, dass man für diese Arbeit ins Gefängnis kommen kann.

Polizisten haben Journalisten in den vergangenen Wochen gezielt angegriffen und festgenommen.

Das stimmt. Die Sicherheitskräfte sehen unsere blauen Westen, kommen auf uns Journalisten zu, angeblich um Dokumente zu überprüfen. Dann werden wir festgenommen und weggefahren. Zwei meiner Kollegen wurden am Ende einer Protestaktion festgenommen. Die beiden haben 72 Stunden in einer Zelle gesessen. Sie wurden als Teilnehmer des Protests verurteilt, obwohl Fotos und Videos bewiesen, dass sie dort journalistisch gearbeitet hatten. Zwei Fotoreporter wurden zu elf Tagen Freiheitsentzug verurteilt. Das passiert nicht zufällig. Es gibt viele Journalisten, aber noch mehr Mitarbeiter der Sicherheitskräfte. Es fällt ihnen nicht schwer, uns unter den Protestteilnehmern herauszupicken. Wir verstehen, dass gezielt Jagd auf uns gemacht wird.

Seit dem 1. Oktober hat das Informationsministerium den Status von Tut.by als Massenmedium aufgehoben.

Das ändert unsere Situation bei den Demonstrationen völlig. In den Augen der Sicherheitskräfte sind wir Protestteilnehmer. Dabei hatten wir den Status als Massenmedium erst Anfang 2019 bekommen. Damit wir Journalisten bei Protesten in Sicherheit sind.

Und diese Sicherheit ist jetzt weg?

Wir gehen noch größere Risiken ein. Wir werden gezielt festgenommen. Die Chefredakteurin von Tut.by hat erklärt, dass die Journalisten nun nicht bei den Massendemonstrationen arbeiten werden, weil es wirklich gefährlich ist. Es gibt nicht viele Medien in Belarus, die ihren Status als Medium behalten durften.

Wie sehr schränkt das die Rolle der Journalisten nun ein?

Unsere Arbeit beschränkt sich ja nicht nur auf Proteste, sie ist viel umfangreicher. Wir nehmen Kontakte zu Beamten auf, die nicht mit uns verkehren wollen. Wir geben uns Mühe, in die Arbeitszimmer zu kommen, in die sie uns nicht lassen wollen.

Glauben Sie, dass sich die politischen Verhältnisse bald ändern?

Nein. Ich bin sicher, dass es ein Marathon ist. Man kann nicht erwarten, dass sich die Situation in den kommenden Monaten oder bis Jahresende ändert. Der August hat gezeigt, dass die Menschen zu Veränderungen bereit sind.

Was erwarten Sie von Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja, die sich gestern in Berlin mit Bundeskanzlerin Angela Merkel getroffen hat?

Ihre Rückkehr nach Belarus ist derzeit unmöglich - sie wird einfach nicht ins Land gelassen, und wenn, würde man sie höchstwahrscheinlich verhaften. Ich würde nicht sagen, dass sie in Belarus als nationale Führerin wahrgenommen wird. Auch das macht die Proteste einzigartig: Die Belarussen sind ihr eigener Führer. Aber Swetlanas Geschichte begeistert und inspiriert natürlich die Menschen, ihr rascher Aufstieg von der Hausfrau zur Politikerin. Hier spielt sich Geschichte vor unseren Augen ab. Wenn keine Fernsehserie über 2020 in Belarus gedreht wird, wäre ich ein wenig enttäuscht.

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