Süddeutsche Zeitung

Medienkolumne "Abspann":Männer ohne Chance

Wie sich das Netz und die "Welt" an Annalena Baerbocks Aufstieg abarbeiten.

Von Susan Vahabzadeh

Die Menschheit hat ein neues Problem. Jahrtausendelang haben wir in einer unbefleckten Meritokratie gelebt, in der ausschließlich die Besten die Führung übernahmen - dass es sich dabei fast ausschließlich um Männer gehandelt hat, muss Zufall gewesen sein. Jetzt aber wurde dieses unfehlbare System, dem die USA bis Anfang dieses Jahres einen Präsidenten verdankten, der vorschlug, Covid-19-Patienten mit Putzmittel-Injektionen zu Leibe zu rücken, einen herben Rückschlag erlebt: Qualifikation zählt nicht mehr. Das Symptom dafür hat die Welt in einem Meinungsbeitrag nun bei den Grünen entdeckt: Robert Habeck sei qualifizierter für eine Kanzlerkandidatur als Annalena Baerbock, und auch andernorts würden die "Gleichstellungsverfechter" Parteien und Unternehmen dazu bringen wollen, Frauen besser qualifizierten Männern vorzuziehen.

Ist Annalena Baerbock denn schlechter qualifiziert? Robert Habeck war schon Minister und stellvertretender Ministerpräsident in Schleswig-Holstein. Andererseits hat Annalena Baerbock einen Abschluss in Völkerrecht von der London School of Economics and Political Science.

Das ist eine Qualifikation; im Netz läuft allerdings das Gerücht sehr gut, mit diesem Abschluss sei etwas faul. Der Sprecher der Grünen hat Baerbocks Abschluss zur Klarstellung auf Twitter eingestellt, der Spiegel berichtet derweil, dass im Netz auch gefälschte Nacktfotos kursieren. Im Google-News-Feed stand das dann friedlich neben dem Quotenfrauen-Sorge-Text aus der Welt, der sich auch auf Baerbocks Abschluss bezieht, bloß anders: In "akademischer Hinsicht" sei die Grüne "eher schmalspurig unterwegs", und daran erkenne man "den Kontrast zu Angela Merkels hart erkämpften Aufstieg. Selbst ihre schärfsten Kritiker haben niemals in Abrede gestellt, dass die Bundeskanzlerin eine ordnungsgemäß promovierte Physikerin ist." Das ist mal ein interessanter Dreh: Die Härte des Aufstiegs bemisst sich also an der üblen Nachrede - je weniger, desto härter der Aufstieg. Ja dann!

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