Die Frau, die nicht lächeln wollte, heißt Grace Tame. Die 27-Jährige ist so etwas wie die Galionsfigur des Kampfs gegen sexuellen Missbrauch an Minderjährigen in Australien. Als Jugendliche ist sie selbst Opfer sexualisierter Gewalt geworden und hat 2018 eine Internet-Bewegung von Betroffenen, vergleichbar mit dem globalen #MeToo, mitgestartet, #LetHerSpeak. Tame gibt Interviews, organisiert Proteste. 2021 wurde sie dafür zur Australierin des Jahres gekürt.
Anfang und Ende jeder Amtsperiode ist der Nationalfeiertag und damit ein pompös-patriotischer Festakt: Reden, Champagner, Tee-Zeremonie bei Premierminister Scott Morrison von der Liberal Party. Und, natürlich, ein Fototermin mit ihm und seiner Frau. Die Morrisons stehen mit breitem Grinsen vor ihrer Villa in Canberra, neben ihnen Grace Tame mit regungslosem Gesicht, klick. Die Botschaft ist klar: Diese Frau wäre gern woanders. Und die australische Presse fällt über sie her.
Die meisten Tageszeitungen gehören zum konservativen Murdoch-Imperium
"Undankbar, unhöflich und kindisch. Die Bilder (...) sind peinlich, für sie", kommentiert Journalist Peter van Onselen in The Australian, der größten Tageszeitung des Landes. Moderatoren streiten in Fernsehdebatten, in den größeren Zeitungen kritisieren Journalisten und Politiker von Morrisons Liberal Party die Aktivistin scharf: Sie hätte den Titel ja nicht annehmen müssen, einige fordern, sie solle ihn wieder zurückgeben.
Die Geschichte des abwesenden Lächelns erzählt viel über Geschlechterklischees, darüber, dass Frauen freundlich lächeln müssen. Sie erzählt aber auch viel über die Presselandschaft Australiens. In kaum einem anderen Land der Welt gibt es eine so große Medienkonzentration. Der News Corporation, dem internationalen Medienimperium von Rupert Murdoch, gehören etwa zwei Drittel der städtischen Tageszeitungen. In den USA betreibt Murdoch unter anderem den Trump-nahen Sender Fox News, in Großbritannien das umstrittene Boulevardblatt The Sun. Für Australien heißt das: deutliche Zurückhaltung mit Kritik an Morrisons konservativer Regierung.
"Warum sollte sie lächeln?"
In den wenigen anderen Zeitungen erhält Tame nach der ersten Welle an Kritik auch Zuspruch, vor allem aber in sozialen Medien: Viele Frauen, Aktivisten und progressive Politiker verteidigen sie. Die Autorin und Aktivistin Sally Rugg schreibt, Frauen müssten nicht neben Männern, die sie nicht ausstehen können, für Kameras lächeln: "Sie ist eine Aktivistin, die zugesehen hat, wie Morrison das ganze Jahr über Betroffene vernachlässigt, kleingemacht und ignoriert hat. Warum sollte sie lächeln?"
Rugg spielt damit auf einen der größten Skandale der australischen Politik im vergangenen Jahr an: Die ehemalige Regierungsmitarbeiterin Brittany Higgins beschuldigte einen Kollegen, sie im Parlamentsgebäude vergewaltigt zu haben. Er bestreitet das, der Prozess ist für Juni geplant. Der Morrison-Regierung wurde anschließend von vielen Aktivisten vorgeworfen, den Fall unter den Teppich kehren zu wollen. Eine der lautesten Stimmen unter ihnen: Grace Tame.