"Audrie & Daisy" bei Netflix:Brutale Bilder braucht dieser Film nicht

"Audrie & Daisy" bei Netflix: Das Leben danach: Daisy Coleman war 14, als es geschah.

Das Leben danach: Daisy Coleman war 14, als es geschah.

(Foto: Netflix)

"Die Worte unserer Feinde sind nicht so schrecklich wie das Schweigen unserer Freunde": Netflix zeigt eine preisgekrönte Doku über jugendliche Vergewaltigungsopfer, die schwer erträglich ist.

TV-Kritik von Kathrin Hollmer

Es war 2012, Daisy Coleman war 14. Sie weiß noch, dass sie aus der "Bitch-Tasse" trinken sollte. Auf einer Party hatten sie ihr die Freunde ihres Bruders hingestellt. Sie leert den ganzen Becher auf einmal. An mehr erinnert sich die Schülerin aus Maryville in Missouri nicht mehr.

Am nächsten Morgen findet sie ihre Mutter auf dem Rasen im Garten. In Jogginghose und T-Shirt, bei minus sechs Grad. Ihre Haare sind am Gras festgefroren. Sie kann sich nicht bewegen, nicht sprechen. Ihre Mutter bringt sie ins Krankenhaus. Dort werden Risse am Damm und an der Schamlippe festgestellt. Sie wurde vergewaltigt. In der Nacht hatte sie 2,6 Promille Alkohol im Blut.

Daisy ist eine der beiden Hauptfiguren in der Dokumentation Audrie & Daisy, die seit ein paar Tagen auf Netflix verfügbar ist und im Januar beim Sundance-Filmfestival für den Jurypreis nominiert war.

Brutale Bilder brauchen die Filmemacher Bonni Cohen und Jon Shenk nicht. Opfer, ihre Eltern, Geschwister und Freunde, sogar Täter erzählen ihre Sicht auf die Geschehnisse. Deren Wucht mindert das nicht. Die Schilderungen sind explizit und ungeschönt. Dazwischen sind Kinderfotos geschnitten, und Mädchenkichern erinnert daran, wie unbeschwert das Leben einer 14-Jährigen eigentlich sein sollte.

Audrie und Daisy wurden beide Opfer sexueller Gewalt und danach im Internet weiter gedemütigt. Audrie Pott aus Saratoga in Kalifornien wurde 2012, mit 15, auf einer Party von mehreren Mitschülern vergewaltigt. Am nächsten Tag tauchten Nacktfotos von ihr auf Facebook auf, mit obszönen Beschmierungen am ganzen Körper.

"Du weißt nicht, wie es ist, ein Mädchen zu sein"

Eine Woche lang erträgt sie das Wissen, dass die ganze High School, für eine 14-Jährige die ganze Welt, die Bilder kennt. Dann findet die Mutter Audrie erhängt in der Dusche.

Audrie & Daisy ist eine einfühlsame Dokumentation, die die Scham der Opfer thematisiert, aber nicht ausschlachtet. Gleichzeitig beleuchtet sie den Druck, den soziale Medien in Schulen bringen.

An Audries Schule werden im Internet Nacktfotos wie Trophäen herumgereicht. Die Mädchen wollen nicht so viel von sich preisgeben und wollen doch den Jungs gefallen. Audrie schrieb einem der Jungen, die sie misshandelt hatten, vor ihrem Tod: "Du weißt nicht, wie es ist, ein Mädchen zu sein."

Verwandlung vom fröhlichen blonden Cheerleader in ein Mädchen mit schwarz gefärbten Haaren

In der Dokumentation sind die Täter zum Teil als Zeichentrickfiguren dargestellt, die beim Verhör hin- und herwippen, ausweichen, Ausreden suchen, zum Teil sieht man Original-Aufnahmen von Befragungen.

Immer wieder werden originale Chatverläufe eingeblendet, und im Fall von Daisy ploppen Hashtags auf. Unter #daisylügt und #ihatedaisy wurde sie nach ihrer Vergewaltigung als "lügende Schlampe" beschimpft und bedroht.

Zwei Jahre lang haben Cohen und Shenk das Mädchen begleitet. Sie dokumentieren ihre Verwandlung vom fröhlichen blonden Cheerleader in ein Mädchen mit schwarz gefärbten Haaren, das Selbstportraits malt, auf denen sie wie ein Skelett aussieht. Mehrmals versucht sie sich umzubringen. "Die Worte unserer Feinde sind nicht so schrecklich wie das Schweigen unserer Freunde", sagt Daisy.

"Das Semikolon bedeutet: Das ist nicht das Ende"

Ihre Worte sind die stärksten in der Dokumentation, ebenso wie die eines dritten Mädchens, Delaney Henderson, die nach ihrer Vergewaltigung ebenfalls im Internet als Lügnerin beschimpft wurde.

Sie vernetzt Mädchen, die sexuelle Gewalt erlebt haben. Wie sie bei einem Treffen in der Runde von Massenvergewaltigungen und dem Misstrauen von Freunden und der Polizei erzählen, ist mutig, und kaum zu ertragen.

Näher dran geht kaum. Besonders Daisy gibt den vielen Opfern, die mit ihrem Erlebten nicht an die Öffentlichkeit gehen, ihre Stimme - und ein Symbol. Sie hat begonnen, den anderen Mädchen Strichpunkte zu tätowieren. Delaney sagt: "In einem Satz bedeutet das Semikolon: Das ist nicht das Ende."

Audrie & Daisy, abrufbar bei Netflix.

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