Arte-Film:Verbotenes Begehren

Arte-Film: Das Findelkind und der Lokomotivführer: Ivy Close und Séverin-Mars im meisterhaften Stummfilm La Roue.

Das Findelkind und der Lokomotivführer: Ivy Close und Séverin-Mars im meisterhaften Stummfilm La Roue.

(Foto: Jérôme Seydoux/Pathé/Arte)

Der Lokomotivführer und das Waisenkind: Arte zeigt mit "La Roue" ein verschollenes Meisterwerk aus dem Jahr 1923 von Abel Gance.

Von Willi Winkler

Die drei großen kulturellen Errungenschaften, die Eisenbahn, das Kino und die Psychoanalyse, wurden im 19. Jahrhundert erfunden. Wenn Hitchcock am Schluss des Unsichtbaren Dritten den Zug in den Tunnel einfahren lässt, konnte er sich auf die Vorarbeit der Mssrs. Freud und Eisenstein verlassen. Doch kein Film führt die drei Formen näher zusammen als La Roue (Das Rad), den allerdings bis jetzt kein heute Lebender sehen konnte.

Das verschollene Meisterwerk von Abel Gance kam 1923 ins Kino, war den Zeitgenossen zu lang, zu aggressiv, zu eisenbahnerfeindlich, zu musikalisch, zu opernhaft und sowieso zu lang, wurde also vom Regisseur gekürzt, von anderen verstümmelt, verschwand dann komplett aus dem Menschheitslangzeitgedächtnis und ist jetzt wundersamerweise wieder zusammengesetzt auf kleinerem Bildschirm zu sehen - Arte sei Lob und Dank.

Der verwitwete Lokführer mit dem etwas aufdringlichen Namen Sisif rettet bei einem Eisenbahnunglück das Waisenmädchen Norma und gibt es als seine Tochter aus, die er gleichauf mit seinem Sohn aufzieht. Als die Kinder erwachsen werden, sind sie ineinander verliebt, was sie nach bürgerlichem Recht nicht sein dürfen. Ein Verführer kommt dazu, luchst Sisif sein Geheimnis ab, und der verliebt sich zu allem Überfluss selber in seine vorgebliche Tochter. Die Botschaft ist überdeutlich, bestes Melodram: Das "heimtückische Gefühl", das Sisif in sich aufsteigen fühlt, entzündet sich an den Beinen seiner schaukelnden Adoptivtochter. Wenn er seinen Sohn und Norma auseinanderreißt, weil sie ihn an seine eigene Begehrlichkeit erinnern, fährt eine Lokomotive durch den Bildhintergrund. Nachts drängt es ihn vor ihre Schlafkammer, in der - so drastisch war nicht einmal Buñuel - ein Ziegenbock Wache hält. Das kann nur ganz böse enden und tut es doch nicht so schnell, denn La Roue dauert fast siebeneinhalb Stunden, die Arte auf zwei Séancen aufgeteilt hat.

Diese Vierecksgeschichte ist nur Lockspeise, und es wird kräftig femmefatalisiert, augengerollt, gebebt und gebangt, aber es ist das Kino, wie es einst leibte, lebte und bei dem alle Menschen guten Willens mitlitten. D. W. Griffith brauchte den Ku Klux Klan und den ganzen Bürgerkrieg, um Birth of a Nation darzustellen, Eisenstein war 1923 noch beim Theater, als Gance vorführte, wie ein Film durch den Schnitt entsteht. Der Regisseur, der mit Napoleon berühmt wurde, prunkt mit seinen Erfindungen und zeigt, wie viel sich mit Kreisblenden, Farbfiltern, Nahaufnahmen und seinen Hauptdarstellern, den französischen Zügen der Zwischenkriegszeit, erzählen lässt.

La Roue, Teil 2 am Dienstag, 0.05 Uhr / Mediathek.

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