1922 lief im Kino der schwedischen Ortschaft Vimmerby der Mary-Pickford-Film Through the Back Door. Darin geht es um ein Mädchen, das im Kindesalter es nicht nur leichterhand mit ausgewachsenen Pferden aufnehmen kann, sondern das seine Stärke und Eigenständigkeit just in den Jahren erreicht, wo es elternlos ist: Die Mutter, im fernen Ausland lebend, hatte es einer Amme zur Pflege gegeben.
Dass unter den Zuschauern damals die 15-jährige Astrid Ericsson, spätere Lindgren, war, ist eines der schönsten Details des schwedischen Dokumentarfilms Astrid Lindgren von Kristina Lindström. Denn Pickfords Film, in Deutschland bezeichnenderweise unter dem Titel Die kleine Mutter gezeigt, wirft seine Schatten auf eine traumatische Erfahrung voraus, die Astrid Lindgren drei Jahre später ereilen sollte. Die 18-Jährige wurde schwanger: im Ort und für die Tochter eines Pfarrhofpächters ein Skandal. Die Ehe mit dem Chefredakteur der örtlichen Tageszeitung, dem Vater des Kindes, lehnte sie ab, verließ das Elternhaus und zog nach Stockholm, wo sie sich zur Sekretärin ausbilden ließ. Ihr Kind kam hingegen im Reichskrankenhaus von Kopenhagen zur Welt, dem einzigen Ort in Skandinavien, wo kein Geburtseintrag im Kirchenregister erfolgte. Die ersten drei Lebensjahre wuchs ihr Sohn ohne die Mutter auf, in einer Pflegefamilie in Dänemark, eine Tagesreise und einen Wochenlohn von der späteren Schriftstellerin entfernt.
Erst ein halbes Jahrhundert später hatte Astrid Lindgren in einem Radio-Interview von der, wie sie sagt, "großen Trauer" berichtet, die diese Lebensumstände verursacht hatten. Und ihrer Nichte gestand sie, dass sie wohl auch sonst zum Beruf des Schreibens gekommen wäre, aber zu einer "Berühmtheit" als Schriftstellerin sei sie vermutlich ohne die Geburt ihres Sohnes nie geworden.
Mit einem Mal könnte sich da dem Fernsehzuschauer erschließen, wie sehr ein ganzer Kosmos unserer Kinderbücher von quasi elternlosen Gesellen bevölkert ist: Der Vater von Lindgrens Pippi Langstrumpf, mittlerweile König auf einer Südseeinsel, trieb sich als Piratenkapitän auf den Weltmeeren herum. Im kleinen Prinzen von Antoine de Saint-Exupéry ist nie von Eltern die Rede. Und selbst die Titelfiguren von Erich Kästners Das doppelte Lottchen durchlaufen eine Kindheit in jeweils defizienter Familie. Ebba Witt-Brattström, von Lindström befragte Literaturwissenschaftlerin, verweist immerhin auf den Zeitpunkt des Kriegsendes, zu dem Pippi Langstrumpf erschienen ist, erwähnt andere Kinderbücher aber nicht. Wo viele Kriegskinder vaterlos waren, sei dies das "Ende des Patriarchats". Nicht zufällig stieß das Kinderbuch anfangs auf erhebliche Vorbehalte bei erwachsenen Lesern und in der männlich dominierten Welt der Verlage und Literaturkritik.
Die jetzt zum 70. Geburtstag von Pippi Langstrumpf gezeigte Sendung streift vieles, was Lindgrens Leben, ihre Bücher und den politischen Umraum miteinander verwebt. Auch ihre unlängst erschienenen Kriegstagebücher finden Erwähnung. Die Ausführlichkeit der Originalfassung von Lindströms Film ist allerdings einer Kürzung um zwei Drittel für die hiesige Ausstrahlung zum Opfer gefallen.
Astrid Lindgren , Arte, Sonntag, 22.15 Uhr.