Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken stehen auf einer Bühne, ihre Anhänger jubeln ihnen zu, sie sprechen davon, dass die Partei ihren moralischen Kompass verloren habe, und der große Schuldige ist auch sogleich benannt: Hartz IV, die Arbeitsmarktreform von 2003, sprich: Gerhard Schröder. Mit solchen Botschaften erringt das linke Duo 2019 den SPD-Vorsitz, den einst Schröder innehatte; allerdings zeigen die Umfragen, dass es immer schneller jene Mitte verliert, die denselben Schröder 1998 ins Bundeskanzleramt trug. Die Art linker Politik, wie sie große Teile der SPD-Funktionsträger heute betreiben, betont von jeher das Trennende mehr als das Gemeinsame; bei Schröder, dem Verfemten, verhielt es sich umgekehrt, er war ein Sieger, genau deswegen, der einzige sozialdemokratische Bundeskanzler seit Helmut Schmidt.
Vielleicht liegt ein tieferes, eher unbewusstes Motiv für die Abneigung, die die akademisierte SPD gegen Gerhard Schröder hegt, in etwas anderem: In scharfem Gegenschnitt zum Gros ihres heutigen Führungspersonals kommt Schröder wirklich von ganz unten. Er ist, was sie nicht sind, ein echter Proletarier von Herkunft.
Torsten Körners lebendige und kluge Dokumentation "Gerhard Schröder - Schlage die Trommel" taucht tief in solche Fragen ein. Als Kind eines kurz nach der Geburt des Sohnes 1944 gefallenen Hilfsarbeiters und einer Putzfrau war Gerhard Schröder der Junge aus dem Unterdorf von Mossenberg. Im Film sagt er dazu: "Ich habe gelitten unter dem Gefühl der Zurücksetzung. Man spürte, dass die anderen besser lebten, man spürte, dass sie geachteter waren in der dörflichen Gemeinschaft." Ausgrenzung ist für ihn kein Begriff aus Identity-Debatten, wie sie die heutige SPD pflegt, sondern Teil seiner Lebensgeschichte; er hat sie als Kind im Übermaß erfahren.
Der Junge lernte sich zu wehren, sich durchzusetzen, erst im Fußball, wo der Mittelstürmer den bezeichnenden Ballkünstlernamen "Acker" trug, dann in der Politik, bei der einzigen Partei, die für seinesgleichen eine Heimat anbot, der SPD; er sollte als ehrgeiziger Pragmatiker, der am Zaun des Kanzleramtes rüttelte, dort dennoch nie wirklich heimisch werden. Die SPD ist nämlich die einzige Partei, die ihre stärksten Persönlichkeiten gern verdächtigt, machtversessene Egozentriker zu sein, und wie der Film zeigt, prägt dieses Gefühl der Entfremdung mehr denn je das Verhältnis dieser Partei zu Schröder.
Sie dankt es ihm wenig, dass der Kanzler und sein "gesellschaftliches Projekt" der rot-grünen Regierung diese Macht für beeindruckende Reformen nutzten: den Ausstieg aus der Atomenergie und mehr Teilhabe für Frauen und Minderheiten zum Beispiel. Außenpolitisch halfen sie den Osteuropäern in die EU und, sicherlich die größte historische Leistung Schröders und seines grünen Außenministers Joschka Fischer, verweigerten 2002/2003 den USA die militärische Gefolgschaft im völkerrechtswidrigen, mit erlogenen Begründungen entfesselten Irakkrieg.
Das Machertum, die klare Kante, die coole Brutalität
Schröder schaffte es aber auch, ausgerechnet die linkeste Regierungskoalition in der Geschichte der Bundesrepublik durch sicherheitspolitische Krisen zu führen, auf die sie wenig vorbereitet war. Die serbischen Verbrechen im Kosovo 1999, vor allem aber 9/11 schufen brutale Sachzwänge; auch Deutschland schickte Soldaten in Kampfeinsätze. Das war heiß umstritten, aber hieran ist Schröder nicht gescheitert. Es war die Arbeitsmarktreform, die ihm seine Partei nie verzieh. Deutlicher als andere Schröder-Dokumentationen arbeitet dieser Film heraus, dass der Kanzler bei der Agenda, die sein Schicksal wurde, weniger über die SPD als über sich selbst stolperte. Bei Millionen Erwerbslosen war die Agenda 2010 nötig, und auf lange Sicht erwies sie sich sogar als erfolgreich; die sehr wirtschaftsfreundliche Verteilung der Lasten und die teils brutalen Härten jedoch, die sie sozial Schwachen zumutete, mussten die Sozialdemokratie erschüttern.
Die Eigenschaften, die dem Jungen aus dem Unterdorf ins Bundeskanzleramt verholfen hatten, empfanden viele Menschen nun als autoritär, ja ignorant: Das Machertum, die klare Kante, die coole Brutalität, mit der Schröder Widerspruch und Widersacher beiseitefegte. Dieses Mal, dieses eine Mal, stand ihm im Weg, was ihn sonst immer weitergetragen hatte. Seine linke, aber faire Kritikerin Gesine Schwan sagt in dem Film, "dass er respektlos war gegenüber denjenigen, die das Gefühl hatten, sie sind unter die Räder gekommen".
2005, als Schröder sein Heil in vorgezogenen Neuwahlen suchte (und fast gefunden hätte), ging das Spiel verloren. Seine Leistung bilanziert Körner pointiert: "Als Kanzler ist Schröder ein wandelnder Widerspruch. Ein Kriegs- und zugleich ein Friedenskanzler, ein Mann des Volkes und der ,Genosse der Bosse', viel Show und doch authentisch, mutig, aber bisweilen zögerlich. Er dient dem Land und beschert seiner Partei massive Probleme."
"Schlage die Trommel" ist von kritischer Sympathie getragen, der Film lässt tiefe Einblicke in eine Partei zu, die einmal die Seele der deutschen Demokratie nach 1945 war. Während die SPD von akuter Verzwergung befallen ist, arbeiten sich viele Genossen noch immer an Gerhard Schröder ab, als sei damals der Gottseibeiuns in die heile Welt wahrer Gesinnung gefahren. Es heißt, der Prophet gelte nichts im eigenen Lande; aber nicht einmal Schröder selbst, dessen Ego dem des Sonnenkönigs wenig nachsteht, würde sich ernsthaft prophetische Gaben bescheinigen. Bei der SPD muss das wohl anders heißen: Der Prolet gilt nichts im eigenen Hause.
Gerhard Schröder - Schlage die Trommel, Arte, Dienstag, 14. Juli, 21.45 Uhr.