Süddeutsche Zeitung

ARD-Zweiteiler "Gladbeck":Ein Film wie ein deutsches Selfie

Mit "Gladbeck" spitzt Regisseur Kilian Riedhof das Geiseldrama von 1988 zur nationalen Tragödie zu. Der Film konfrontiert den Zuschauer mit der Willkür von Gewalt - und seiner eigenen Faszination dafür.

Von Josef Kelnberger

Eine deutsche Autobahn, von oben gefilmt, leer. Eine Horde Autos jagt von rechts nach links durchs Bild. Kurz darauf ist ein dumpfer Knall zu hören, splitterndes Glas. Dann fallen Schüsse. Immer mehr Schüsse, dazwischen Schreie in Todesangst. Und zu sehen ist die Autobahn, teilnahmslos und stumm liegt sie da.

So beginnt dieser Film, mit totaler Abstraktion. Doch es genügt dazu ein Wort, um Bilder entstehen zu lassen: "Gladbeck". Jeder, der vor dreißig Jahren fernsehen konnte, hat sein Gladbeck im Kopf. Den Bankräuber und Geiselnehmer Hans-Jürgen Rösner, der sich die Pistole in den Mund steckt, getreu seinem Lebensmotto: "Tot sein ist schöner als wie ohne Geld." Seinen Kumpel Dieter Degowski, wie er sich an die junge Geisel Silke Bischoff quetscht und ihr die Pistole an den Hals drückt, während er ein Interview gibt. Das Fluchtauto, in der Kölner Innenstadt von sensationsgeilen Journalisten umlagert. Den toten italienischen Jungen Emanuele De Giorgi, von Degowski erschossen, von Fotografen gnadenlos geblitzt. Silke Bischoff, getötet von einer Kugel aus Rösners Waffe, von einer Decke verhüllt tot auf der Autobahn.

54 Stunden dauerte diese deutsche Odyssee, beginnend mit einem Bankraub in Gladbeck, gefolgt von einer Flucht mit wechselnden Geiseln, mit einem Abstecher in die Niederlande, wo ein Polizist ums Leben kam. Die Irrfahrt endete mit dem missratenen Befreiungsversuch der Polizei auf der A 3 bei Bad Honnef, die alle überlebten außer Silke Bischoff. 16. bis 18. August 1988 - ein Schwerverbrechen als Medienspektakel, unter den Augen einer versagenden Staatsgewalt. Ein nationales Trauma, ausführlich untersucht und dokumentiert. Musste man wirklich noch einmal einen Film daraus machen, knapp dreißig Jahre danach, zweimal 90 Minuten?

Die Filmproduzentin Regina Ziegler hat einige Jahre Lebenszeit und viel eigenes Geld investiert für Gladbeck. Sie fand in Holger Karsten Schmidt einen Drehbuchautor, den dieser Stoff ebenso wenig losließ. Die ARD, als Finanzier über ihre Tochter Degeto beteiligt, betreibt mit dem Film Vergangenheitsbewältigung; auch sie hat, getrieben von der Konkurrenz des Privat-TV, damals ein Interview mit Berufsverbrecher Rösner gesendet, in der Tagesschau. Bei Radio Bremen gilt Gladbeck bis heute als Trauma, denn Journalisten des Hauses befragten Rösner, als sei es das Natürlichste der Welt. Auch deshalb beteiligte sich der Sender und produzierte zusätzlich eine Dokumentation zum Thema. Aber lohnt sich der Aufwand wirklich?

Kommt darauf an, ob Regisseur Kilian Riedhof sein Ziel erreicht: Erschütterung. Er wolle keine Schuldzuweisungen an Medien oder Polizei, sagt er. Der Fernsehzuschauer solle die Erschütterung körperlich spüren. Bei der Pressevorführung in einem Berliner Kino war jedenfalls deutlich zu spüren: Der Film entfaltet große Wucht.

Riedhof hat vor drei Jahren für die ARD den Fall Barschel, ein anderes deutsches Trauma, in einem Thriller bis zur Schmerzgrenze in die Verschwörungstheorien hineingetrieben. Gladbeck hat er in Gladbeck so detailgetreu wie möglich abgebildet, um die alten Bilder für seine Zwecke zu kapern. Er hat sie angereichert mit dem Ergebnis umfänglicher Recherchen über jene 54 Stunden und zugespitzt zu einer Tragödie. Der Zuschauer erlebt die Willkür von Gewalt und die Ohnmacht der Opfer - wird aber auch konfrontiert mit der eigenen Faszination für Gewalt. Man kann den Film auch sehen als deutsches Selfie: Gladbeck und Wir.

Deutschland 1988, es ist ein seltsam harmloser Staat aus heutiger Sicht. Der Film zeigt in den Einsatzzentralen: Arglosigkeit, Überforderung, Inkompetenz, Feigheit, am Ende Verzweiflung, als das Düsseldorfer Innenministerium auf den riskanten Zugriff auf der Autobahn dringt, nachdem man zuvor so viele Gelegenheiten hat verstreichen lassen. In Bremen sind die Köpfe der Täter im Fadenkreuz von Scharfschützen, doch der Innensenator spricht den Satz: "Ein deutscher Staat darf nie wieder willkürlich auf seine Bürger schießen, selbst wenn es sich um Verbrecher handelt." Die Schützen lassen ihre Waffen sinken. Niemand ist vorbereitet auf Kriminelle, die, in ihrem Narzissmus bespiegelt von den Medien, ihr Verbrechen zur Show machen. Zwei Loser in der Rolle ihres Lebens. Insofern war Gladbeck eine Vorwegnahme des Terrors heutiger Tage.

Die Schuld der Medien relativiert sich, wenn man sieht, wie viel Raum ihnen die Polizei gewährte

Die Täter wirken im Film wie Abziehbilder des Bösen schlechthin. Sascha Alexander Geršak als Rösner und Alexander Scheer als Degowski müssen phasenweise spielen wie im Stummfilm, in der langen Bankraub-Sequenz sogar ohne Gesicht, sie tragen Sturmhauben zum Overall. Rösner avancierte mit seinem kumpeligen Ruhrpott-Slang zum Unterschichten-Held, der "den Bullen" und "den Presseheinis" mit vorgehaltener Knarre mal so richtig Bescheid sagte. Riedhof gewährt den Tätern keine Starpose, keine Tiefe, keine Biografie. Degowski wurde kürzlich aus der Haft entlassen, Rösner versuchte vergeblich, über seinen Anwalt den Film zu verhindern. Das ganze Projekt wurde von einem juristischen Berater begleitet, um keine Angriffsflächen zu bieten. Das Trauma Gladbeck ist höchst lebendig.

Die Schuld der Medien, bis heute beschworen, relativiert sich, wenn man sieht, wie viel Raum ihnen die Polizei gewährte. Und sie relativiert sich erst recht, wenn man die Bilder von "Gaffern" auf deutschen Straßen vor Augen hat, die das Leid und das Sterben anderer Menschen filmen, für ein paar Likes auf Facebook. Die widerlichen Reporter von Gladbeck 1988 - das sind heute die Smartphone-Jedermann-Reporter. Nach Gladbeck gaben sich die Medien Regeln für den Umgang mit Verbrechen wie diesen, damals mussten die Journalisten spontan entscheiden. Manche haben sich zu Mittätern gemacht, andere ihr Bestes gegeben. So wie der AP-Fotograf Peter Meyer, der in Bremen den Vermittler spielte, als Rösner und Degowski einen Linienbus kaperten und die Polizei sich verkrümelte. Riedhof inszeniert ihn zwischen Eitelkeit und Fürsorglichkeit, mit gewisser Sympathie.

Auch der Regisseur lotet Grenzen aus, wenn er sich den Opfern nähert. Nach der Pressevorführung hörte er den Vorwurf, er habe das Sterben des Emanuele De Giorgi (Riccardo Campione) voyeuristisch ausgestellt. Riedhof beharrt darauf, er wollte in aller Deutlichkeit zeigen, wie Journalisten ihn für ihre Fotos in Position brachten. Er will das Leid der Familie verständlich machen, die nach Italien zurückkehrte, gebrochen, allein gelassen von den deutschen Behörden. "Nur ein Kanake", sagt der Film-Degowski.

Und Silke Bischoff (Zsa Zsa Inci Bürkle), die zur Ikone wurde nach ihrem Tod: Sie ist zu sehen, wie sie sich schminkt, ehe Degowski sie zur persönlichen Geisel erwählt. Der schmierige Gangster und die schöne, blonde, junge Frau: Das sei auch für ihn das Urbild von Gladbeck gewesen, sagt Riedhof. "Das ist das Faszinosum Gladbeck: Es war grauenvoll, aber unterschwellig sind wir fasziniert davon. Wir ertappen uns dabei, dass wir selber die Täter sind."

Gladbeck, Das Erste, Mittwoch und Donnerstag, 20.15 Uhr.

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SZ vom 07.03.2018
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