ARD-Serie "Mitten in Deutschland - NSU":Verhängnisvolle Stasi-Manie

Lesezeit: 5 Min.

Zwei maskierte Männer nähern sich dem Lieferwagen des Blumenhändlers Enver Şimşek: Die Szene des ARD-Films "Mitten in Deutschland: NSU - Die Opfer" zeigt den ersten Mord des NSU im Jahr 2000. (Foto: WDR/Stephan Rabold)

Ein ARD-Dreiteiler fragt, wie der NSU entstehen konnte und legt einen brisanten Schluss nahe: War die Härte im Umgang mit Stasi-Mitarbeitern nach der Wende einer der Gründe?

Von Paul Katzenberger

Kurz vor der Tat wird der Bildschirm schwarz, zuvor hat man gesehen, wie ein Transporter auf einer Ausfallstraße neben einem mobilen Blumenhändler eingeparkt hat. So stellen sich die Macher der dreiteiligen Serie "Mitten in Deutschland: NSU" die letzten Sekunden vor den Schüssen auf Enver Şimşek vor, dem ersten Opfer des NSU im Jahr 2000.

Der schwarze Bildschirm symbolisiert die Fassungslosigkeit, die die schwerwiegendste Mordserie der deutschen Nachkriegsgeschichte auch knapp fünf Jahre nach ihrer Aufdeckung auslöst: Wie konnte es geschehen, dass zwei junge Männer, möglicherweise unterstützt von einer jungen Frau, über sieben Jahre hinweg unentdeckt auf einen blutigen Feldzug zogen, den ein griechischer, drei türkische und fünf kurdische Männer sowie eine junge deutsche Polizistin nicht überlebten, und bei dem darüber hinaus 22 Menschen verletzt wurden?.

ARD-Film über den NSU
:Arbeit am deutschen Terror

Die ARD nähert sich in drei Fernsehfilmen dem NSU-Komplex. Doch wie erzählt man diese Geschichte? Unser Autor hat den Regisseur bei den Dreharbeiten begleitet.

Von Cornelius Pollmer

Wie der sorgfältig recherchierte Dreiteiler offenbart, der an diesem Mittwoch endete, kam da vieles auf fatale Weise zusammen: Die historisch einmalige Situation der deutschen Wiedervereinigung, in deren Folge so viele Menschen gleichzeitig ihren Arbeitsplatz verloren wie niemals zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg, spielt bei der Ursachenforschung eine große Rolle.

Aber auch die V-Leute des Verfassungsschutzes, die den Ermittlern eigentlich helfen sollen, die rechtsextreme Szene im Auge zu behalten, waren Teil des Problems: Sie halfen mit, Strukturen aufzubauen, die außer Kontrolle gerieten. Und auch die Ermittler selbst tragen Verantwortung: Sie bekamen den Kopf - bewusst oder un bewusst - nicht frei von anfänglichen Verdachtsmomenten, die die Motive der Täter im Drogen- und/oder im sogenannten Migrantenmilieu verorteten.

All das ist nicht neu, doch in der Zusammenschau wirken diese Ursachen noch einleuchtender. Vor allem aber wirft "Mitten in Deutschland: NSU" eine Frage auf, die bislang bei der Betrachtung der NSU-Mordserie kaum eine Rolle gespielt hat: Kann es sein, dass der unnachgiebige Umgang mit der Stasi und ihren mehr als 100 000 informellen Mitarbeitern verhängnisvolle Konsequenzen hatte?

Universeller Autoritätsverlust der Erwachsenen

Die erste Folge der Serie "Die Täter - Heute ist nicht alle Tage" präsentiert Jena-Winzerla, wo Beate Zschäpe (Anna Maria Mühe), Uwe Mundlos (Albrecht Schuch) und Uwe Böhnhardt (Sebastian Urzendowsky) aufwuchsen, als eine Welt, in der sich jede Ordnung aufgelöst hatte. Dieses Chaos zeigt der Film auch als Folge eines universellen Autoritätsverlustes der Erwachsenen: Allein die grassierende Massenarbeitslosigkeit stempelt sie in den Augen der Jugendlichen zu Losern ab, die keinen Respekt verdienen - sogar Uwe Mundlos' Vater, der Informatik-Professor ist, geht das so: Im Film muss er sich seinem Sohn gegenüber dafür rechtfertigen, dass seine berufliche Zukunft offenbar unsicher ist.

Neben diese ökonomische Stigmatisierung tritt in "Die Täter" aber auch eine moralische Ächtung eines jeden, der in irgendeiner Weise aktiv zum DDR-System beigetragen hatte. Beate Zschäpes Mathelehrer verliert im Film zunächst die Deutungshoheit im Klassenzimmer, dann seinen Job und schließlich komplett seine Würde. Er war Stasi-Spitzel, und das reicht aus, um ihn als Lehrer sofort zu diskreditieren.

Mitläufer aber keine Hochverräter

Wie schwer seine Schuld wirklich wiegt, wird im Film nicht weiter thematisiert. Und das war in Jena-Winzerla wohl tatsächlich nicht von Belang. Das Thema Stasi, das die DDR-Bürgerrechtler auf die öffentliche Agenda gesetzt hatten, beherrschte den Blick auf die DDR in nahezu absoluter Weise - als sei das Land 40 Jahre lang bewohnt gewesen von lauter kleinen Honeckers, Mielkes, Ulbrichts oder Krenzens.

Aus westlicher Perspektive wurde dieser Blick auf das untergegangene Land gerne bestätigt, nicht zuletzt weil es den eigenen Einfluss in den neuen Ländern erhöhte. Mit der Realität hatte das gleichwohl nichts zu tun: Viele der kleinen Spitzel waren Mitläufer, die sich im System eingerichtet hatten, aber keine Hochverräter, so schlimm die Stasi war.

Der Vertrauensbruch, den die Spitzel begingen, geschah häufig nicht, weil sie besonders heimtückisch waren, sondern weil sie in der Diktatur einen persönlichen Vorteil suchten: Die wenigsten Menschen sind zum Helden und zum Widerstandskämpfer geboren.

Dies darf im Einzelfall durchaus als entlastend angesehen werden, doch mildernde Umstände wurden - wie "Mitten in Deutschland: NSU" zeigt, im Falle Ostdeutschlands kaum gewährt.

Die Frage, ob es gerechtfertigt ist, Mitläufer einer Diktatur mit der sofortigen Vernichtung ihrer bürgerlichen Existenz zu bestrafen, wenn das autoritäre System überwunden ist, stellt sich allein deswegen, weil die Bestrafung der schlimmsten Fälle menschenverachtenden politischen Handelns ja auch im Fall der DDR nicht besonders gut funktionierte, obwohl nie zuvor ein Regime so schnell und so gründlich demaskiert worden ist. Doch gerade die Hauptverantwortlichen kamen meist glimpflich davon. Margot Honecker etwa entging der sozialen Ächtung, der die Mathelehrer der Republik ausgesetzt waren, einfach dadurch, dass sie 1992 nach Chile auswanderte - ein Weg, der den meisten Bewohnern Jena-Winzerlas verschlossen war.

Die juristische Strafverfolgung der Täter erwies sich ebenfalls als unbefriedigend: Zwar wurden einige Politbüro-Mitglieder verurteilt, weil sie den Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze zumindest gebilligt hatten, doch selbst der langjährige Stasi-Chef Erich Mielke konnte nur angeklagt werden, weil er 60 Jahre zuvor in der Weimarer Republik an einem politischen Mord beteiligt gewesen war. Das rechtsstaatliche Strafrecht erwies sich im Fall der eigentlichen Verantwortlichen als stumpfes Schwert.

Noch drängender ist aber die ganz pragmatische Frage, die der Folge "Die Täter - Heute ist nicht alle Tage" zu Grunde liegt: Schuf die rigorose Aufarbeitung der Stasi-Willkür, durch die Hunderttausende belastete Lehrer, Polizisten, Sozialarbeiter, Jugendklub-Betreuer, Verwaltungsbeamte, Juristen und so weiter von heute auf morgen ihre Funktion verloren, einen rechtsfreien Raum, in dem der Rechtsextremismus trefflich gedieh? Nicht nur hatten junge Menschen in der ohnehin ungewissen Umbruchssituation plötzlich keine Bezugspersonen mehr, die den Weg weisen konnten, sondern noch viel schlimmer: Wenn etwa Jung-Nazis anderen mit Gewalt ihre Lebensanschauungen aufoktroyierten, war da oft kein Polizist und kein Staatsanwalt in der Nähe, der sie in die Schranken wies. "Mitten in Deutschland - NSU" zeigt das in Szenen auf, die schon beim Zuschauen wehtun.

Furor der Nachgeborenen

Hätte der Verlust moralischer Autorität rechtsextreme Tendenzen in Ostdeutschland tatsächlich befördert, würde das den weit verbreiteten Konsens relativieren, dass es nach der Überwindung einer Zwangsherrschaft niemals genug Aufarbeitung geben kann.

In der alten Bundesrepublik wuchs diese Anschauungsweise in den Sechzigerjahren, als sich Eltern von ihren Kindern fragen lassen mussten, warum sie sich dem Nazi-Terror in keiner Weise widersetzt hatten. Die Kriegsgeneration selber hatte sich dieser Frage bis dahin entzogen - niemand wollte etwas von Dachau, Bergen-Belsen und vom Holocaust als Ganzes gewusst haben. Der Furor der Nachgeborenen über diese Ausreden mündete in eine Destabilisierung der Gesellschaft, die von Achtundsechzigern ausging und die den demokratischen Staat im Deutschen Herbst 1977 erheblich herausforderte.

Glänzende Karrieren von Alt-Nazis

Ihre sehr sanfte Entnazifierung nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die Bundesrepublik vor allem damit gerechtfertigt, dass etwa der Beamtenapparat des Nazi-Systems schlicht gebraucht worden sei, um die staatliche Ordnung in Westdeutschland sicherzustellen.

Der NSDAP-Aufnahmeantrag von Hans Filbinger, der im Bundesarchiv in Berlin liegt. Das Dokument räumte die Zweifel daran aus, ob der frühere CDU-Ministerpräsident Baden-Württembergs ein Nazi war. (Foto: dpa)

Es bleibt ein Skandal, dass die alte Bundesrepublik dem "furchtbaren Juristen" (Rolf Hochhuth) und langjährigen Ministerpräsidenten Baden-Württembergs, Hans Filbinger, sowie etlichen weiteren Alt-Nazis glänzende Karrieren ermöglichte. Doch was hier an Aufarbeitung zu wenig geschah, vollzog sich beim Untergang der DDR womöglich zu viel. Die Entstehung des NSU als eine mögliche Folge des kompletten Zusammenbruchs der DDR-Strukturen scheint diesen Schluss nahezulegen.

© SZ.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: