Plötzlich ist sie wieder da. Nur ein kurzer Blick auf die Frau mit den abgetragenen Klamotten genügt. Nadja erstarrt. Jede, nur nicht die, überall, nur nicht hier, auf der Hochzeitsfeier ihres Bruders. Nadja kann sich kaum rühren. Sie weiß, was es bedeutet, wenn die Frau wieder da ist. Sie hat es schon zu oft erlebt. Die Frau, die sich das Bierglas greift, dann überschwänglich applaudiert, schließlich die Tischdecke herunterreißt und laut schimpfend aus dem Saal gedrängt wird, ist Nadjas Mutter. Eine psychisch kranke Säuferin.
Die BR-Produktion Ein Teil von uns handelt von einer dieser verlorenen Gestalten, die durch alle Städte streifen. In einer Montagesequenz fährt Nadja durch München, vorbei an jenen Orten, an denen die Stadt ihre Obdachlosen versteckt. Ein Teil derer, die dort in schmutzigen Schlafsäcken liegen, tun das nicht nur für die Kamera, sondern leben wirklich so.
Nadjas Mutter könnte die verwirrte alte Frau sein, die tief gebückt ihre Habseligkeiten in Plastiktaschen herumschleppt. Die, bei der alle, die ihr begegnen, die Luft anhalten und schnell vorbeilaufen, um ihren bestialischen Gestank von Urin und eitrigen Wunden schnell hinter sich zu lassen.
Viel mehr noch als von dieser Frau handelt der Film, dessen Drehbuch Esther Bernstorff geschrieben und bei dem Nicole Weegmann Regie geführt hat, aber von ihrer Tochter Nadja. Deren emotionale Krise und verzweifelte Stärke nach der Wiederbegegnung mit der Mutter spielt Brigitte Hobmeier bestechend einfühlsam. Die Krankheit der Mutter (ebenfalls toll von Jutta Hoffmann gespielt) ist schlimm. Unerträglich wird sie durch das Schamgefühl, das Nadja ihre Mutter selbst vor ihrem Freund verleugnen lässt.
Nadja spricht ihre Mutter nur mit deren Vornamen Irene an, ein verzweifelter Versuch, sich von ihr zu distanzieren. Erst als Irene am absoluten Tiefpunkt angekommen ist und Nadja zudem sieht, wie verabscheuenswert unmenschlich andere mit der Obdachlosen umgehen, sagt sie "Mami", als wäre sie eine normale Tochter, die nicht schon als Kind lernen musste, die Mutter mit dem Versprechen von Alkohol von der Straße wegzulocken.
Die Obdachlose ist weder ein reines Opfer, noch hat sie Schuld an ihrer Situation
Das alles ist herzzerreißend emotional inszeniert, ohne dabei aufgesetzt zu sein. Dem Film gelingt das auch, weil er dem Publikum intime Einblicke in das Leben seiner Protagonisten erlaubt, sich aber verbietet, diese zu reinen Objekten des Voyeurismus zu degradieren. Er lässt den Figuren ihre Würde und ihre Widersprüche. Auch die Obdachlose ist weder ein reines Opfer, noch hat sie Schuld an ihrer Situation.
Nadja fasst einmal die Diskussion mit ihrer Familie zusammen, in der keiner die Verantwortung übernehmen möchte: "Gut, dann einigen wir uns darauf, dass wir sie verrecken lassen." Das bringt nicht nur das persönliche Drama auf den Punkt, sondern kann auch sozialkritisch verstanden werden: Auch Obdachlose sind Ein Teil von uns, wer sie sich selbst überlässt, soll wissen, dass er sie sterben lässt.
Nadja sagt aber auch: "Es gibt keine Lösung." Indem die Produktion nicht vorgibt, sie hätte ein Patent zum Umgang mit Obdachlosigkeit entdeckt, nimmt sie nicht zuletzt auch ihr Publikum ernst.
Ein Teil von uns , 20.15 Uhr, ARD