Süddeutsche Zeitung

ARD:Getränkte Fassade

Die "Tagesthemen" senden direkt nach dem Ausscheiden der deutschen Mannschaft aus der Fußball-Weltmeisterschaft einen irritierenden Kommentar. Man könne sich nun endlich den Schattenseiten der Großveranstaltung zuwenden.

Es ist ein journalistischer Reflex, im Scheitern immer auch gleich eine Chance zu sehen, weil die Show ja weitergehen, auf eine Geschichte die nächste folgen muss. Mal durchatmen, die Ereignisse sacken lassen war in der Branche nie groß in Mode, doch insbesondere für digitale Medien ist Schnelligkeit ja mehr denn je eine Währung. Wobei es einen nicht unwesentlichen Unterschied macht, ob man als Erster von einem Unglücksort berichtet oder als Erster eine Meinung zu dem Unglück hat.

Am Mittwochabend, nur wenige Stunden nach dem Ausscheiden der deutschen Nationalmannschaft bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Russland, ging WDR-Doping- und Korruptionsexperte Jochen Leufgens in den Tagesthemen mit einem Kommentar auf Sendung, in dem er im Scheitern eine Chance sieht, "stärker hinter die Fassade dieser WM zu schauen; die Fassade, die, solange die Mannschaft im Spiel ist, schwarz-rot-gold, fast blickdicht getränkt bleibt". Es wurde nicht ganz klar, wer sich nun bitte endlich für die Schattenseiten der Großveranstaltung, für Zwangsarbeiter und Menschenrechtsverletzungen, interessieren sollte: die Zuschauer? Sein Sender? Die Medien im Allgemeinen? Leufgens Kommentar wirkte so kurz nach dem Aus wie der Schrei nach Liebe eines Mannes, dessen Themen es in der öffentlich-rechtlichen Eventberichterstattung schwer haben, weil ARD und ZDF zur Fußball-WM vor allem ein Programm für Fans machen und es denen wiederum sowieso schon schwer fällt, in Leufgen und seinen Kollegen etwas anderes zu sehen als Spielverderber. Dass er den WM-Guckern den Durchblick absprach, den er selbst in 90 Sekunden Redezeit mal eben herstellte, machte die Sache noch unangenehmer. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass zahllose Medien ja durchaus seit Monaten auch über die Missstände im Gastgeberland berichten. Wer den Kommentar gesehen hat, fragte sich unwillkürlich, was nun unsympathischer ist: Menschenrechtsverletzungen auszublenden oder sich dermaßen unbedingt auf dieses Thema zu versteifen. Fans können fanatisch sein, Journalisten aber auch. Für Leufgens trägt das Benennen der Missstände gar "seine ganz eigene Fußballromantik in sich". Mit dieser Meinung dürfte er am Mittwochabend sehr alleine gewesen sein. Aber er hatte eine. Es gibt Tage, da reicht das für die Tagesthemen.

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Quelle:
SZ vom 29.06.2018 / DADE
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