ARD-Doku:Die Täter kommen aus unserer Mitte

Die Story im Ersten - Schüsse im Gymnasium

Die Schüsse und die Folgen: Erfurt am 26. April 2002.

(Foto: MDR)

Eine ARD-Doku recherchiert die Folgen von Amokläufen an Schulen - allerdings ohne den Protagonisten wirklich nahezukommen.

TV-Kritik von Cornelius Pollmer

Die Wendung "Man müsste mal" bedeutet in aller Regel, dass niemand irgendetwas unternehmen wird. Gerade deswegen fröstelt es, wenn sich in der vom MDR produzierten Dokumentation Schüsse im Gymnasium ein Klassenkamerad erinnert, wie Robert Steinhäuser in der Schule manchmal gesagt habe, man müsste da mal aufräumen. Im Winter 2002 fliegt Steinhäuser vom Erfurter Gutenberg-Gymnasium, am Vormittag des 26. April 2002 kehrt er mit eigenen Waffen zurück, um das zu tun, was er mit Aufräumen gemeint hatte. Es sterben: elf Lehrer, eine Referendarin, zwei Schüler, eine Sekretärin, ein Polizist. Steinhäuser tötet sich schließlich selbst.

Das Geschehen zieht sich über Stunden, die Polizei agiert zaghaft, weil sie unvorbereitet ist auf eine solche Tat. "Wir waren die Nullserie", sagt ein am Einsatz beteiligter Polizist, und wenn dem Film von Sandro Gerber etwas ordentlich gelingt, dann sind es die ersten 20 Minuten, in denen nach etwas unsortiertem Beginn der grauenhafte Akt Steinhäusers recht nüchtern nachgezeichnet wird. Von dieser Nüchternheit weichen allerdings die teilweise plumpen Toneffekte ab - mit dramatisierenden Trommeltakten musste man rechnen, das blecherne Schussgeräusch aber hört man bis zum Ende der Doku so unnötig oft, dass man nicht mehr mitzählen mag.

Weitgehend oberflächlich

Davon jedenfalls unberührt bleibt die hilfreiche Rückschau: Vor 15 Jahren gab es keinen geregelten Amokalarm an Schulen und die Dienst-nach-Vorschrift-Order der Polizei sah vor, auf das SEK zu warten, auch wenn in dieser Zwischenzeit der Täter weitere Opfer fand. Deutliche Defizite gab es zudem in der Kommunikation zwischen Rettern und Rettungsleitern. Statt darauf aufbauend nun politische Debattenverläufe und andere Entwicklungen konkret zu beschreiben, beschränkt sich der Film leider auf Leichteres. Einzelpersonen erzählen ein bisschen über die folgenden Amokläufe in Winnenden und Emsdetten, Polizisten ein wenig über ihre veränderte Ausbildung. Das ist nicht falsch und es beinhaltet auch interessante Aspekte: So gibt es an Schulen vielerorts inzwischen neue Sprechanlagen und Codewörter ("Frau Koma kommt"). Auch gibt es ein Beratungszentrum für Gewalt an Schulen. Doch bleibt der Film, in Summe, darüber hinaus weitgehend oberflächlich.

Zum einen, weil er wichtige Dimensionen solcher Gewalttaten fast ganz außer Acht lässt, etwa das oft dusselige Verhalten der Medien - so reiste 2002 Johannes B. Kerner ja noch am Tage des Amoklaufs nach Erfurt, um am Abend unter einem Pavillon einen Elfjährigen vor viel Fernsehpublikum zu fragen, wie er sich denn fühle. Zum anderen, weil er kaum einem seiner Protagonisten richtig nahekommt. Am besten klappt das noch bei dem Lehrer André Förster, der selbst 15 Jahre später in verstörender Gegenwärtigkeit von "dem Robert" erzählt, und der auf diese Weise gut klarmacht, dass Täter oft von dort kommen, wo sie glauben, nicht hinzugehören: aus unserer Mitte.

Schüsse im Gymnasium, ARD, 22.45 Uhr.

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