ARD-Doku "Akte D":Vorwärts und alles vergessen

Geschichte im Ersten

Ortsbesichtigung im Rahmen des Auschwitz-Prozesses, 1964: Weniger als tausend Deutsche wurden für die Ermordung der Juden rechtskräftig verurteilt.

(Foto: WDR/picture-alliance/dpa)

500 000 Deutsche waren an der Vertreibung und Ermordung der Juden beteiligt. Weniger als tausend davon wurden vor deutschen Gerichten rechtskräftig verurteilt. "Akte D" erinnert an das Versagen der Nachkriegsjustiz, die bei Naziverbrechern Milde walten ließ.

Von Willi Winkler

Nur damit das gleich klar ist: Dieser Film bringt nichts Neues. Nichts von dem, was er berichtet, ist unbekannt, nichts von dem, was er zeigt, ist bisher nicht gezeigt und wiederholt worden. Und doch ist es gut, dass die Bilder ein weiteres Mal laufen, dass wieder zu sehen ist, wie die alliierten Sieger vor den Leichenbergen stehen, wie die Überlebenden als Zeugen vor Gericht erscheinen, wie die Angeklagten sich hinter Akten verstecken, wie sie schließlich als uralte Männer sündenstolz in die Kamera blinzeln, ungebeugt im Bewusstsein, doch nur ihre Pflicht getan und im Zweifel einem Befehl gehorcht zu haben.

Der Befehl an die Volksgemeinschaft lautete erst auf die Vertreibung und dann die Ausrottung der Juden. Vor siebzig Jahren nämlich glaubte das angebliche Kulturvolk, ohne Auschwitz nicht mehr weiterleben zu können.

Fünfhunderttausend Deutsche waren an der Vertreibung und Ermordung der Juden beteiligt. Weniger als tausend davon wurden vor deutschen Gerichten rechtskräftig verurteilt. Selbst wenn sie angeklagt wurden, durften sie eine Schonung erwarten, die sie ihren Gegnern, die sie den Juden, Homosexuellen, den Sinti und Roma und Kommunisten niemals zugestanden hätten.

Im Juli 1962, wenige Wochen, nachdem in Israel das so viele entlastende Todesurteil für Adolf Eichmann vollstreckt war, beklagte Hannah Arendt in einem Brief an Karl Jaspers die Milde der deutschen Justiz: "Ich glaube für 6500 vergaste Juden bekommt man 3 Jahre 6 Monate, oder so ähnlich. (. . .) Und über diese politischen Dinge wird auch die wirtschaftliche Entwicklung auf die Dauer nicht hinweghelfen."

Unglaublicher Korpsgeist

Das war ein Irrtum, denn die westdeutsche Bundesrepublik kam sehr gut damit zurecht, dass die Mörder, wie ein früher Film vergeblich mahnte, mitten unter uns lebten.

Es gehört vielmehr auch zur wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, dass die Millionen Mitglieder der NSDAP und andere Mitläufer großzügig in die Demokratie integriert wurden, deren Abschaffung sie zuvor so leidenschaftlich betrieben hatten.

Dafür sorgte im großen Ganzen der selber unbelastete Machiavellist Konrad Adenauer, dafür sorgten die im Bundestag vertretenen Parteien, allen voran die FDP, dafür sorgten im Einzelfall Beamte und Juristen, die, von einem unglaublichen Korpsgeist beseelt, alles taten, um auch Massenmörder laufen zu lassen.

Erst ordentlich promoviert, dann "Schlächter von Genua"

Recht und Rechtsprechung wurden im Interesse der Staatsräson systematisch zu Unrecht. Es schadet nicht, dazu Ingo Müllers Buch Furchtbare Juristen zu lesen, das eben in einer erweiterten Neuausgabe erschienen ist (Edition Tiamat).

Der Film Akte D von Christoph Weber stellt dieses schreiende Unrecht am Beispiel des SS-Obersturmbannführers Friedrich Engel dar. Der ordentlich promovierte Geisteswissenschaftler verwandelte sich im italienischen Partisanenkrieg in den "Schlächter von Genua", also das, was später als kleiner Befehlsempfänger galt.

Kurz nur musste er nach dem Krieg, den er mit dem Kriegsverdienstkreuz I. Klasse, aber sonst unbeschadet überlebt hatte, untertauchen, dann stieg er in den Holzhandel ein und wurde in Hamburg ein ehrengeachteter Kaufmann.

Dass ihn die Italiener nach jahrzehntelanger, auch politischer Rücksichtnahme 1999 wegen hundertfachen Mordes in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilten, verwunderte ihn, denn wie hätte er sich - der "überzeugte Nationalsozialist" - irgendeiner Schuld bewusst sein sollen?

Endlich nahm sich auch die deutsche Justiz des Falls an, erkannte beim Landgericht Hamburg auf besondere Grausamkeit. Der Bundesgerichtshof wollte die aber nicht sehen und sprach Engel frei. 2006 ist er mitten unter uns im Alter von 97 Jahren friedlich entschlafen.

Akte D - das Versagen der Nachkriegsjustiz, ARD, 23.30 Uhr.

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