Süddeutsche Zeitung

US-Medien:Druck von Twitter

Der Fall Emily Wilder: Warum die Nachrichtenagentur AP eine junge Journalistin wegen alter Tweets feuerte.

Von Willi Winkler

Die Stadt Phoenix in Arizona ist ziemlich genau 12 000 Kilometer Luftlinie von Gaza entfernt und damit von dem Gebäude, das die israelische Luftwaffe am 15. Mai bombardierte. Es hätten sich darin, so die offizielle, aber bisher nicht belegte Erklärung, Einrichtungen der Terrororganisation Hamas befunden. Tatsächlich arbeiteten dort Journalisten des arabischen Senders Al-Jazeera und der amerikanischen Nachrichtenagentur Associated Press (AP), die aber vor dem Angriff gewarnt wurden und sich mit ihren Laptops in Sicherheit bringen konnten. Ein Opfer allerdings gab es, die Reporterin Emily Wilder in Phoenix. Ihr Arbeitgeber AP entließ sie am 19. Mai fristlos, weil sie in aktuellen privaten Tweets angeblich eine Parteinahme für die Palästinenser und gegen Israel gezeigt habe.

Im vergangen Jahr hat die 22-Jährige ihr Studium an der Stanford University abgeschlossen; sie war erst zwei Wochen zuvor bei AP eingestellt worden. In Stanford, das den deutschen Spruch "Die Luft der Freiheit weht" des Humanisten Ulrich von Hutten als Motto führt, gehörte sie als Jüdin zwei propalästinensischen Organisationen an. Das machte ihr jetzt, nach einem neuen Tweet über die Objektivität von Medienberichterstattung, eine Gruppe Republikaner in Stanford zum Vorwurf. Unter anderem geht es um einen alten Tweet, in dem sie den vor Kurzem verstorbenen Milliardär Sheldon Adelson als "Nacktmull" beschimpft hatte. Adelson, der 2016 Donald Trumps Wahlkampf mit einer Großspende gestützt hat, förderte den Umzug der US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem. Wilders politisches Engagement kann nicht unbekannt gewesen sein. Ihre alten Tweets seien für die Arbeit bei AP ohne Bedeutung, habe man ihr bei der Einstellung versichert, wie Wilder in einer Erklärung mitteilte. Außerdem sei ihr gesagt worden, "dass mich die Redaktion bei dem Ansturm sexistischer, antisemitischer, rassistischer und gewalttätiger Kommentare unterstützen würde".

Mehr als hundert Kollegen haben mittlerweile in einem offenen Brief gegen die Entlassung protestiert

Genau das hat AP nicht getan, sondern erkennbar dem Druck konservativer Politiker und Blogger nachgegeben, denn auch auf Nachfrage unter anderem der Süddeutschen war AP nicht in der Lage, die aktuellen Tweets zu benennen, die zu Wilders Entlassung geführt haben sollen. Der republikanische Senator Tom Cotten, der sich von Trump besonders gefördert sah, nutzte die Gelegenheit, der Agentur eine antiisraelische Haltung vorzuwerfen, und wiederholte gleichzeitig die unbewiesene Behauptung, dass AP und die Hamas in Gaza unter einem Dach operiert hätten.

Das Nachrichtenunternehmen hat offenbar aber die öffentliche Reaktion auf die Entlassung einer Berufsanfängerin unterschätzt. Mehr als hundert Kollegen haben sich mittlerweile aus Sorge um die innere Pressefreiheit in einem offenen Brief an die Leitung des Hauses gewandt und gegen die Entlassung protestiert. Am vergangenen Mittwoch wurde zur Klärung eine Redaktionskonferenz einberufen, bei der sich die Chefs rechtfertigen mussten. Die bisherige Chefredakteurin Sally Buzbee, die am kommenden Dienstag zur Washington Post wechselt, hat erklären lassen, sie sei mit der Entscheidung nicht befasst gewesen. Geschäftsführer Brian Carovillano beharrte darauf, dass die einmütig getroffene Entscheidung richtig gewesen sei. "Schon erstaunlich, wie leicht sich die Karriere einer talentierten Reporterin von einem Twitter-Mob mit scheinheiliger Entrüstung über ein paar College-Tweets beenden lässt", schrieb ein Kollege, natürlich auf Twitter.

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