Süddeutsche Zeitung

Antisemitismus-Dokumentation:Die Muster sind unter uns

Der Film "Jud Süß 2.0" wagt sich an ein Thema, das fast zu komplex ist für eine Fernsehdokumentation: das Fortwirken antisemitischer Propaganda-Strukturen.

Von Nils Minkmar

Gleich hinter dem Hauptbahnhof von Wiesbaden lagert brisantes Material. In der Murnau-Stiftung werden alte Filme aufbewahrt: die Meisterwerke aus der Weimarer Republik und dann die anderen, für die der schöne Begriff der "Vorbehaltsfilme" gefunden wurde. Es sind jene Nazifilme, die man wegen ihrer geschickten Machart und dem abstoßenden antisemitischen Gehalt nicht ohne Weiteres vorführen oder senden darf. Von der Macht dieser Bilder und ihrer Nachkommen handelt die Dokumentation "Jud Süß 2.0" von Felix Moeller, die heute Abend auf Arte zu sehen ist.

Moeller, der sich schon mit Filmen über die sogenannten "Sympathisanten" des deutschen Herbsts und über Ingmar Bergman einen Namen gemacht hat, begibt sich hier auf eine Erkundungsreise, deren Ziel sich wie eine Fata Morgana entzieht.

Um die perfide Wirkung des Films zu illustrieren, müsste man ihn zeigen, aber das ist zu gefährlich

Die Ausgangslage ist kompliziert: Um die perfide Wirkung von Veit Harlans "Jud Süß" aus dem Jahr 1940 zu illustrieren, müsste man ihn sehen und besprechen, aber das ist im heutigen Kontext einer Zunahme antisemitischer Äußerungen zu gefährlich. Also wird hier mit Ausschnitten gearbeitet, zu denen Korrespondenzen in heutigen Clips und Reden aufgezeigt werden. Das klappt gut, wenn man sich an optische Stereotype hält, an Karikaturen, Fratzen und den missbrauchten Davidstern: Die finden wir bei den Nazis und immer wieder heute im Netz.

Doch das Thema entfaltet eine viel größere Dynamik. Der Film möchte sich aus guten Gründen nicht darauf beschränken, die Kontinuität diffamierender Repräsentation von Juden aufzuzeigen, sondern er macht sich daran, die heutigen Bezüge antisemitischer Muster aufzuzeigen. Und da wird es dann kompliziert. In den Nazifilmen findet sich das Motiv einer Überfremdung durch Massen von fremden Juden - hier schlägt der Film eine Brücke zur Theorie des "großen Bevölkerungsaustauschs", die in Deutschland auch als drohende "Umvolkung" bekannt ist. Aber dieses Thema wäre selbst einen ganzen Film wert. Leider würde man feststellen müssen, dass diese verrückte Theorie längst ernsthaft diskutiert wird, beispielsweise im französischen Präsidentschaftswahlkampf. Dort sind es nicht nur die hofierten Rechtsradikalen, die sich darüber verbreiten, sondern auch Politiker des sogenannten konservativen Lagers, und zwar unter nachsichtigem Nicken von angesehenen Intellektuellen. Das wird hier aber nur gestreift. Der Vordenker dieses Wahnsinns, der einstige Schwulenaktivist Renaud Camus, der heute auf einem alten Schloss im südwestfranzösischen Département Gers lebt, wird gar nicht erwähnt.

Frankreich ist eines der Heimatländer des modernen Antisemitismus

Leider gilt das auch für die Tradition antisemitischer Muster und Bilder in Frankreich überhaupt: Durch eine unglückliche Verkürzung kann ein unaufmerksamer Zuschauer hier den Eindruck gewinnen, antisemitische Propaganda sei erst mit den Nazis nach Frankreich gekommen. Aber bekanntlich ist Frankreich eines der Heimatländer des modernen Antisemitismus. Der Import der antisemitischen Nazifilme traf auf ein dankbares Publikum.

Ähnlich flüchtig bleibt hier die Analyse der antisemitischen Muster in der Szene der Corona-Leugner. Expertinnen wie Julia Ebner können gut erklären, wo und wie die alten Mythen von der Weltverschwörung heute wieder auftauchen, aber es stellen sich auch immer neue Fragen. Heute ist in diesen rechten Kreisen eine perfide Aneignung des Leids der Juden in der Nazizeit zu beobachten: Man gibt sich plötzlich als Verfolgter mit dem gelben Stern, weil man gegen eine Pandemie opponiert, die von globalen Dunkelmännern inszeniert wird. Die Bezüge des Themas zum Populismus Orbán'scher Prägung, zu den rechten Demonstranten in Charlottesville, die judenfeindlichen Parolen skandieren, zu den Mythen um George Soros und Bill Gates sprengen den Rahmen eines solchen Films. Das Thema ist zu komplex, zu dynamisch.

Interessant wäre, welche Staaten und Geldgeber antijüdische Propaganda inszenieren und fördern

Immer wieder werden antisemitische und Fragmente aus dem Netz gezeigt, aber das Vorhandensein solchen Materials in den digitalen Foren ist nicht neu. Interessant wäre es, einmal zu erfahren, welche Staaten und welche Geldgeber solche antiisraelische und antijüdische Propaganda inszenieren und fördern. Antisemitismus macht sich zwar im digitalen Raum breit, aber er kommt ja auch per Post und manifestiert sich in Anschlägen und Attentaten. Über die Wege der Radikalisierung, die Rolle der Bilder in diesem Prozess, hätte man gerne Tagebuchauszüge aus der Nazizeit oder einen Aussteiger aus der rechten Szene gehört.

Der Titel wirft Fragen auf: Der Propagandafilm von 1940 war ganz auf ein geübtes, zahlreiches und gemischtes Kinopublikum hin produziert, war also mit großen Hollywoodproduktionen oder ambitionierten Netflix-Serien vergleichbar. Antisemitismus war in den Vierzigerjahren kein verschämtes Randphänomen, sondern gehörte zum guten Ton - die Stützen der Gesellschaft dachten und sprachen so. Heute ist das anders. Der Antisemitismus tobt in speziellen Foren und Kanälen, muss sich aber ansonsten einigermaßen tarnen, denn der Mehrheit ist er zuwider. Er sucht sich also Themen wie die Furcht vor Migration oder nun die Politik der Corona-Bekämpfung, um sie propagandistisch zu vereinnahmen.

Zu Recht lässt der Film Figuren wie Björn Höcke zu Wort kommen, die sich um solch eine Strategie bemühen. Doch was, wenn der Versuch einer parlamentarischen Einflussnahme scheitert? Propaganda ist kein Selbstzweck, und von einer kohärenten politischen Strategie sind die heutigen Antisemiten weit entfernt. Befürchten muss man eine Entwicklung, die im Film nur am Rande vorkommt: Die Entstehung rechter Terrornetzwerke, die die aus ihrer Sicht enttäuschenden Resultate der politischen und propagandistischen Versuche durch Gewalt zu kompensieren suchen.

Jud Süß 2.0 - Vom NS- zum Online-Antisemitismus, Arte, 22.40 Uhr

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