Anne Will über EU-Politik:Kleingeistige Ego-Show

Anne Will reduziert das Thema Europawahl konsequent auf innerdeutsche Sorgen. Kein Wort zu TTIP oder Datenschutz: Stoiber, Wagenknecht und McAllister streiten lieber über Scheinprobleme wie Armutszuwanderung.

Eine TV-Kritik von Matthias Kolb

Schon der Titel der Sendung lässt nichts Gutes vermuten. Unter der Überschrift "Glühbirnen-Verbot und Euro-Rettung. Was hat uns Europa in den vergangenen Jahren gebracht?" will Anne Will kurz vor der Europawahl Bilanz ziehen. Auf Zukunftsfragen und Visionen darf der Zuschauer also nicht hoffen, der Fokus soll eindeutig auf Deutschland liegen und der Wert der EU-Mitgliedschaft möglichst kühl unter Kosten-Nutzen-Aspekten berechnet werden.

Dass Duschköpfe die Glühbirnen (übrigens eine Idee von Sigmar Gabriel) in der öffentlichen Debatte längst als Symbol für den angeblichen Brüsseler "Bürokratie-Irrsinn" abgelöst haben, ist der Redaktion von Anne Will ebenso verborgen geblieben wie die Tatsache, dass nichts die Deutschen in diesem Europawahlkampf mehr bewegt als TTIP, jenes geplante Freihandelsabkommen der EU mit den USA. Am Abend zuvor waren die Spitzenkandidaten Martin Schulz und Jean-Claude Juncker in der ARD-Wahlarena vom Publikum zu TTIP und Datenschutz gelöchert worden - bei Anne Will werden beide Themen in 75 langen Sendeminuten kein einziges Mal erwähnt.

Stattdessen begibt sich Will mit ihren Gästen auf eine ziemlich kleingeistige Nabelschau. Immerhin: Die Zuschauer wissen nun, dass David McAllister, der bislang nahezu unsichtbare Spitzenkandidat der CDU, wirklich existiert - auf den Plakaten ist ja sonst nur Kanzlerin Merkel zu sehen. Auch wenn der Deutsch-Schotte in der Diskussion blass und leidenschaftslos auftritt, darf er immerhin ins Studio kommen: CSU und Linke schicken anstelle ihrer Spitzenkräfte Markus Ferber und Gabi Zimmer lieber Edmund Stoiber und Sahra Wagenknecht.

Lieblingsthema Sozialmissbrauch

Und die streiten in altbekannter Manier über den angeblich "massenhaften" Sozialmissbrauch durch EU-Ausländer. Stoiber gibt zu, dass die CSU die Lage mit dem Slogan "Wer betrügt, der fliegt" zugespitzt habe, doch es sei "ein Problem, das die Menschen bewegt". SPD-Vize Ralf Stegner unterstellt der CSU Angst vor der AfD, während Wagenknecht der Regierung vorwirft, "ein Problem aufzubauschen, um von anderen abzulenken". Wichtiger sei es, jene Unternehmer zu bestrafen, die Rumänen und Bulgaren zu sittenwidrigen Löhnen einstellen würden.

Lautstark diskutiert die Runde über das Regierungsvorhaben, im Fall von Sozialmissbrauch EU-Bürgern die Wiedereinreise nach Deutschland zu verbieten sowie die kürzlich bekannt gewordene Meinung des Generalanwalts beim Europäischen Gerichtshof, wonach Deutschland EU-Bürgern Hartz-IV-Leistungen verweigern dürfe.

Es ist FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff, der deutlich machen muss, dass hier fast zwanzig Minuten lang über ein Scheinproblem debattiert wird: Lediglich 0,2 Prozent der deutschen Hartz-IV-Ausgaben gehe an EU-Ausländer. Woher Lambsdorff diese Zahl hat, verrät er nicht; sie wird aber auch von keinem in der Runde angezweifelt. Die Regierung nennt andere Größen: Einem Zwischenbericht von Innen- und Arbeitsministerium zufolge sind 4,7 Prozent der Bezieher von deutschen Sozialleistungen Ausländer.(*)

Für Lambsdorff steht aber fest: Von "massenhaftem" Missbrauch könne keine Rede sein, die Debatte führe nur dazu, dass das deutsche Image leide und die hochqualifizierten Leute lieber nach Schweden oder in die Niederlande gehen würden. Pointiert, kenntnisreich, leidenschaftlich - an diesem Abend überzeugt der FDP-Spitzenkandidat.

Die Frage, inwieweit die EU-Flüchtlingspolitik dazu beiträgt, dass viele Menschen aus Afrika und Nahost Schlepper anheuern müssen und ihr Leben riskieren wollen, um nach Europa zu kommen, wird nicht debattiert. Stattdessen geht es um die Jugendarbeitslosigkeit in Europa. Sechs Millionen junge Europäer haben keinen Job - vor allem in Spanien, Italien oder Griechenland.

Verbraucherschutz? Kein Thema

Welche Hoffnungen und Sorgen haben diese jungen Menschen, wo sehen sie ihre Zukunft, wie wollen sie Arbeit finden und was denken sie über Deutschland? Gerne hätte man in einem Einspielfilm Beispiele gehört, um die abstrakte Zahl der sechs Millionen fassbar zu machen. Stattdessen verbeißt sich Anne Will wieder in ein typisch deutsches Mini-Problem.

Das Arbeitsministerium will mit dem Programm "Job of my life" junge Ausländer unterstützen, die in Deutschland eine Ausbildung machen wollen. Ministerin Nahles hat nun angekündigt, die Mittel zu kürzen und in den kommenden vier Jahren nur maximal 2000 Jobsuchende zu fördern. Sicher: Hier wird an der falschen Stelle gespart, aber das Problem Jugendarbeitslosigkeit ist viel komplexer und birgt viel mehr Sprengkraft für den sozialen Zusammenhalt in Europa. Wills Debatte verkürzt sie auf ein deutsches Förderprogramm.

Wie steht Deutschland da?

Ähnlich kleingeistig geht es weiter. Beim Thema Schuldenkrise und Euro-Rettung interessiert nur, wie Deutschland nun dastehe und ob das Land weiter von niedrigen Zinsen profitieren könne. Ein Studiogast aus Griechenland, Frankreich oder Spanien hätte eine andere Perspektive einbringen können - stattdessen altbekannte Floskeln. Stoiber macht die früheren Regierungen in Athen, Paris, Madrid und Rom für die Misere verantwortlich und Wagenknecht klagt, dass in der EU "Banken mehr zählen als junge Leute". Die Grüne Ska Keller schimpft auf die "blinde Sparpolitik" der Troika und wünscht sich Investitionen in "grüne, nachhaltige und innovative Jobs".

Dass aktuelle Themen wie TTIP oder Verbraucherschutz ausgespart werden, ist bedauerlich. Zudem wird das Versprechen, in dieser Sendung Bilanz zu ziehen, nicht eingelöst: Die Diskussion über Außenpolitik konzentriert sich nur auf die Lage in der Ukraine und den Umgang mit Russland.

Ob sich Deutschland stärker in Europa und der Welt engagieren soll oder wie das Ausland die Berliner Rolle sieht - spannende Fragen, die nicht angesprochen werden. Anstatt einen polnischen oder britischen Politiker zu zitieren, wird im Einspielfilm der rauchende 95-jährige Helmut Schmidt gezeigt. Der Altkanzler hatte der EU-Kommission in einem Bild-Interview "Größenwahnsinn" vorgeworfen und das EU-Parlament zum "Putsch" gegen die Kommission "und ihre Tausenden Bürokraten" aufgerufen.

Solche Einlassungen lassen sowohl den eloquenten Lambsdorff als auch den Polterer Stegner sprachlos zurück, zumal Moderatorin Will Schmidts Vorschlag in eine ernsthafte Frage an die EU-Abgeordnete Ska Keller weitergibt. Diese verneint verblüfft und korrigiert schnell ein gängiges Klischee: Für die Stadt Wien arbeiten doppelt so viele Beamte wie für alle EU-Institutionen. Der Apparat in Brüssel sei längst nicht so aufgebläht wie immer getan werde.

Lambsdorff warnt Merkel

Am Ende dreht sich noch mal alles um jene beiden Herren, die sich am Vorabend den Fragen von 200 Wählern gestellt hatten. Es gebe doch ein Demokratiedefizit in der EU, wenn die Bürger gar nicht wissen könnten, ob der SPD-Mann Martin Schulz oder der EVP-Spitzenkandidat Jean-Claude Juncker denn wirklich Chef der EU-Kommission werden würden, so Will. Letztlich entscheide dies doch der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs, in dem niemand mächtiger sei als Bundeskanzlerin Merkel.

CDU-Mann McAllister versichert eilfertig, dass die Kanzlerin hinter Juncker stehe - auch wenn dieser auf keinem Wahlplakat in Deutschland zu sehen ist. Edmund Stoiber betont die Dynamik der vergangenen Wochen und sagt überzeugt: "Es wird entweder Schulz oder Juncker." Der Liberale Lambsdorff warnt Merkel davor, die Bürger zu "verschaukeln" und einen anderen Politiker an die Spitze der EU-Kommission zu befördern: "Dies wäre ein komisches Demokratieverständnis."

"Das ist doch großartig. Am Schluss der Sendung machen wir noch einen Appell an die Bundeskanzlerin, die Demokratie ernst zu nehmen", stellt Moderatorin Will zufrieden fest und ruft die Zuschauer auf, am Sonntag wählen zu gehen.

Leider ist es aber Will und ihrem Team nicht gelungen, das Thema Europa interessant darzustellen. Das ist sehr schade, denn im deutschen Fernsehen wird viel zu wenig über die EU und die Brüsseler Politik berichtet. Die wenigen Chancen sollten besser genutzt werden.

Anmerkung der Redaktion: Der Abschnitt über die Aussage von Alexander Graf Lambsdorff wurde nachträglich ergänzt. Weitere Informationen über die Kosten der Zuwanderung und die "Mär vom Weltsozialamt" finden Sie in diesem Artikel.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: