Süddeutsche Zeitung

"Anne Will" zum Ukraine-Krieg:Tribunal für Putin-Kitsch

Lesezeit: 3 min

Bei Anne Will gibt es statt eiernder Diskussion glasklare Monologe der Bitterkeit - und Kritik an Deutschland, auf die Schweigen und Schlucken folgt.

Von Marlene Knobloch

Es gibt Tage, an denen Talkshows nicht mehr das Parkett gestriegelter Floskeln, sondern die Bühne bitterer Wahrheiten sind. An diesem Abend bei Anne Will sehnt man sich nach jenen politischen Zuständen, in denen einen ein Sprachvalium wie "niedrigschwellige Basisschutzmaßnahmen" betäubt. Und dass alles, so im Sofapolster wegdämmernd, schon irgendwie okay sein wird.

Doch an diesem Sonntag, an dem Bundeskanzler Olaf Scholz von der SPD von einer "Zeitenwende" spricht, er 100 Milliarden Euro in die Bundeswehr investieren will, Waffenlieferungen an die Ukraine verspricht, während Wladimir Putin seine Finger vor Atomknöpfen laut knacksen lässt, an einem Tag, an dem ukrainische Soldaten weiter die Häuser in Kiew mit ihrem Leben verteidigen, an so einem Tag also da hört man Pausen, Schlucken, Schweigen. Und keiner, auch nicht Norbert Röttgen von der CDU, hat eine originelle Antwort, wenn der Historiker Karl Schlögel sagt, man müsse auch auf einen Dritten Weltkrieg gefasst sein.

Wie viel die jüngsten sieben Tage verschoben haben, zeigt sich schon am Titel. Hieß die vorherige Ausgabe von "Anne Will" noch "Wie ist ein neuer Krieg zu verhindern?", lautet die aktuelle Frage der Sendung "Putin führt Krieg in Europa - wie ist er noch zu stoppen?" Sprach sich Außenexperte Röttgen vergangenen Sonntag noch gegen Waffenlieferungen an die Ukraine aus, stimmte er diesen jetzt zu. Und diskutierte man vergangene Woche noch über Diplomatie, sitzt da nun ein Christian Lindner, der über die "nuklearen Fähigkeiten der Nato, die für die Menschheit an sich eine Bedrohung darstellen" referiert. Aber keiner der Gäste hat sich an die Schwere der neuen Sprache gewöhnt.

Zeitenwende hin oder her - der Historiker Karl Schlögel rechnet ab mit dieser Zeit. Und man sieht ihm an, dass ihm die eigenen Worte verdammt wehtun. Schnaufend, auf den Studioboden blinzelnd, mit den eigenen Sätzen wie mit Tränen ringend, zeigt er sich erst mal froh, dass "endlich, endlich, endlich Klartext" gesprochen werde. "Irgendwie ist die Wirklichkeit angekommen."

Friedensgewöhnte und -verwöhnte Generation

Der emeritiere Professor teilt recht konkret gegen die direkte Umgebung aus: "Es sind in vielen Talkshows Märchen erzählt worden." Und haut Richtung Linkspartei, genauer Sahra Wagenknecht und Gregor Gysi, die keine Ahnung hätten von dem, was in der Ukraine passiert. Vor allem aber schimpft er auf den "Putin-Kitsch und Russland-Kitsch", den es in der Gesellschaft gebe. Um dann noch weiter auszuholen, in Richtung Grundproblem.

Wir seien eine "Friedensgewöhnte und -verwöhnte Generation", für die Krieg und Gewalt eine Fernsehangelegenheit sei. "Wir haben es nicht mal fertiggebracht, ein Putin-Tribunal auf die Beine zu stellen."

Als dann Ljudmyla Melnyk, ukrainische Wissenschaftlerin am Institut für Europäische Politik in Berlin, ihre Enttäuschung über Deutschland zeigt ("Wir brauchen immer einen Schock, um unsere Außenpolitik zu ändern") und das luftige Wunschdenken der vergangenen Wochen angreift ("Ist die deutsche Außenpolitik wirklich so eine hoffnungsbasierte Außenpolitik?") fühlt man sich kurz an Heinrich Heine erinnert, den elegantesten Militärkritiker Deutschlands, der den Deutschen in seinem "Wintermärchen" maximal das "Luftreich des Traums" zusprach. Denn: Weder Hoffnung noch Bewunderung für die Ukrainer retten dieses Land und seine Demokratie.

Selbst Moderatorin Anne Will scheint mehr zu flehen als zu fragen, als sich der lettische Staatspräsident Egils Levits zuschaltet: "Aber wird das ausreichen, dass man Putin stoppen kann?" Immerhin deutet der auf die helleren Flecken dieser Tage, auf die zusammenstehende Ukraine und antwortet auf Deutsch: "Putin hat nicht mit der Einigkeit Europas gerechnet."

Zwischen diesen Stimmen kullern Lindners und Röttgens Politikerhülsen "In die Zukunft schauen", "Wir müssen durchhalten", "Überprüfen der Gasversorgung" dumpf auf den Boden. "Die Frage ist, ob die Ukraine fällt oder nicht", zerrt der Historiker Schlögel die traurige Wahrheit ins hoffende Halbrund, erinnert an die zerbombten Brücken, an die zerstörten Flughäfen. Oder wie die Journalistin Kristina Dunz die aktuelle Kriegszukunft zusammenfasst: "Es wird ein Blutbad geben."

Ganz am Ende, als die Ukrainerin Melnyk noch mal betont, wie wichtig es sei, "die neuen Gefahren" zu akzeptieren, fragt man sich hellwach, ob nicht jetzt der passende Zeitpunkt wäre für konzentrierte Aktionen, Handlungsbedarf, Prüfstand, gesamteuropäische Gesamtkonzept, an die Bürger zu denken und die Menschen mitzunehmen?

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