Talkshow "Anne Will":Der Gruselfaktor des Brexit ist schwer zu überbieten

Anne Will; AnneWill 7.4.

"Wie lange denn noch? Das Ringen um den Brexit" lautet der leicht genervte Titel der Sendung "Anne Will" am 7. April. Im Uhrzeigersinn: Annette Dittert, Günter Verheugen, Ursula von der Leyen, Anne Will, Philippa Whitford und Greg Hands.

(Foto: NDR/Wolfgang Borrs)

Bei Anne Will kritisiert der frühere Kommissar Verheugen die EU heftig. Sonst lernt man: Es gibt eine Europäische Chemikalienagentur. Und die nächste Folge der Brexit-Saga dürfte nicht weit sein.

TV-Kritik von Thomas Hummel

Hallihallo, da ist er wieder: Der Brexit beschäftigt die Talkshows. Deutschland muss ein glückliches Land sein, wenn es keine anderen Probleme zu besprechen hat. Andererseits ist es aber auch zu kribbelig, vom heimischen Sofa aus den Briten beim gefühlten Untergang zuzuschauen. Als würden sie langsam im Treibsand versinken und dabei noch aufeinander einprügeln. Da will niemand die nächste Folge der Brexit-Saga verpassen: Zieht sich Großbritannien wirklich selbst in den Abgrund? Oder kommt doch von irgendwoher die letzte Rettung?

Diesmal also die ARD-Sendung Anne Will, die bereits im Titel einen genervten Unterton anschlägt: "Wie lange denn noch? Das Ringen um den Brexit." Die Moderatorin legt gleich genervte Fragen nach: "Will Theresa May eigentlich alle auf den Arm nehmen?" Kurz darauf fragt sie ihre London-Korrespondentin Annette Dittert: "Wie oft denken Sie eigentlich: Die haben einen Dachschaden?"

Anne Will setzt damit den Ton. Lange Zeit waren sowohl die Briten als auch die EU sehr auf Höflichkeit bedacht, trotz der Trennung will man Freunde bleiben. Beide Seiten einigten sich fast im Stillen auf einen Austrittsvertrag - doch weil das Londoner Unterhaus ums Verrecken nicht zustimmen will, wird die Stimmung immer schlechter. Und langsam nimmt das sogenannte "Blame-Game" an Fahrt auf: Wer ist schuld an dem ganzen Drama?

Zur Erinnerung der aktuelle Sachstand: Die britische Premierministerin Theresa May hat die Europäische Union zuletzt um einen weiteren Aufschub des Scheidungstermins bis zum 30. Juni gebeten. Weil ihr die Brexit-Hardliner in ihrer Konservativen Partei einfach nicht folgen wollen, verhandelt sie jetzt mit der Opposition über eine Einigung. Am Mittwoch kommen die Staats- und Regierungschefs der EU zusammen und beraten, ob sie den Briten eine weitere Frist gewähren, bei einem Nein fliegt das Vereinigte Königreich am Freitag ohne Abkommen aus der EU. Es geht um Bürgerrechte, um Zollschranken. Zwischen Nordirland und Irland müsste eine Grenze errichtet werden, was den Friedensprozess wohl beenden würde. Die Probleme wären vielfältig.

Wird der Brexit verschoben, müssten die Briten aber Ende Mai an der Wahl zum Europäischen Parlament teilnehmen. Was die Brexit-Befürworter davon halten? "Das wäre einfach lächerlich", sagt Studiogast Greg Hands, Abgeordneter der Konservativen in London.

Hands hat lange in Berlin gelebt und ist mit einer Deutschen verheiratet, er beherrscht die Sprache sehr gut. Neben ihm sitzt Philippa Whitford, Abgeordnete im Unterhaus für die Schottische Nationalpartei, verheiratet mit einem Deutschen und ebenfalls einwandfrei in deutscher Sprache. Seit wann sind Briten eigentlich für umfangreiche Fremdsprachenkenntnisse bekannt? Zuletzt trat schon der Labour-Abgeordnete Ben Bradshow bei Maybrit Illner auf, ebenfalls in quasi perfektem Deutsch. Ganz kurz kommt die Frage in den Sinn: Warum haben sich nicht deutsche Abgeordnete mit guten Englischkenntnissen vor dem Brexit-Referendum in britische Talkshows gesetzt und die Vorteile der EU erklärt? Dann wäre vielleicht vieles anders gekommen.

Nun aber zurück zum Blame-Game. Greg Hands vertritt nicht zum ersten Mal im deutschen Fernsehen die Ansicht, dass sich die EU bewegen müsse in den Verhandlungen. Im Speziellen im Falle des sogenannten Backstop, die Auffanglösung für die irische Insel. Sie soll verhindern, dass Grenzkontrollen zwischen Nordirland und Irland nötig sind und würde im Ernstfall Nordirland im Binnenmarkt der EU halten. Die Hardliner in London lehnen das strikt ab. Doch weil Irland auf den Backstop besteht, besteht auch die EU darauf.

Die EU solle "mal was Neues vorlegen"

Noch schlechter auf die EU ist allerdings ein Deutscher zu sprechen: Günter Verheugen, SPD, ehemaliger Erweiterungskommissar und Industriekommissar der EU. Er schimpft ordentlich über seinen Ex-Arbeitgeber. "Die Briten haben einen Anspruch darauf, dass die EU mal was Neues vorlegt", sagt er. Denn der Brexit-Deal sei kein Diktat der EU gegenüber Großbritannien. Doch Brüssel habe von Anfang an klargemacht: "Das Spiel wird nach unseren Regeln gespielt." Dabei seien die Probleme lösbar, sagt Verheugen.

Verheugens Auftritt zeigt, dass die EU keineswegs gefeit ist davor, dass der politische Streit in London nach Brüssel überschwappt. Bislang treten die übrigen 27 Länder geeint auf, doch es gibt auch hier Kritiker der Verhandlungstaktik.

Eine Grenze zwischen Irland und Nordirland? "Das ist eine Insel, nicht einmal eine große Insel", sagt Verheugen, "wenn sie da was kontrollieren wollen, können sie das an den Häfen und Flughäfen machen." Man brauche keine Personenkontrollen, und das Handelsvolumen sei lachhaft. Eine Zollunion komme vor allem wegen der EU nicht zustande. Denn die besteht auf Vorbedingungen, die für Großbritannien nicht akzeptabel seien: der Europäische Gerichtshof als oberste juristische Instanz, keine Mitsprache der Briten bei der Handelspolitik, Nachvollzug aller europäischen Regelungen, ohne mitreden zu können. Verheugens Frage: "Ist das der richtige Umgang mit einem wichtigen Partnerland?" Für ihn stehen diese EU-Regeln zur Debatte.

Das dürften Verheugens alte Kollegen in Brüssel nicht gerne hören. Gelten doch dort die Binnenmarkt- und Zollunion-Regeln als sakrosankt, um die Gemeinschaft zusammenzuhalten. Wer dabei sein will, muss Vorteile und Nachteile akzeptieren, Rosinenpickerei ist unerwünscht. Doch Verheugen bleibt dabei: "Brüssel hat ein Lehrstück dafür geliefert, wie man nicht mit einem Mitgliedsland umgehen darf, das raus will."

Greg Hands nickt bei diesen Worten gerne, ohne dabei freilich seinen sehr kritischen Blick zu verlieren. Widerspruch kommt von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) und ARD-Korrespondentin Dittert. Die Schottin Whitford ist sowieso für einen Verbleib ihres Landes in der EU und zählt allerlei Vorteile auf: zum Beispiel die Europäische Arzneimittel-Agentur oder die Europäische Chemikalienagentur. Das klingt gut, und die meisten Zuschauer dürften etwas dazugelernt haben.

Wie es nun weitergeht? Dittert sagt: "Es ist das Allerschwierigste, eine annähernd stimmige Prognose zu machen." Auch das hört sich auf einem deutschen Sofa am Sonntagabend gar nicht so schlecht an. Es nährt die Hoffnung, dass noch ein paar Folgen der Brexit-Saga in Produktion sind. Und Anne Will, Maybrit Illner und all die anderen Talkshow-Macher müssen ja irgendwas zum Reden haben. Der Gruselfaktor des Brexit ist da schwer zu überbieten.

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