Distanz ist das gesundheitliche Gebot dieser Tage. Das Fernsehen hat andere Maßgaben. Klaffende Räume zwischen den Teilnehmern einer TV-Talkshow stören das Auge des Zuschauers, dessen Anpassungsfähigkeit ja gerade ohnehin strapaziert wird. Das scheint sich zumindest die Redaktion von "Anne Will" gedacht zu haben und so stehen an diesem Sonntag inmitten des ungewöhnlich großzügigen Halbrunds der Sitzmöbel drei runde Couchtischchen. Sie sind so leer wie am Wochenende viele öffentliche Plätze, noch nicht mal die obligatorischen Wassergläser wurden auf dem weißen Lack platziert, möglicherweise aus hygienischen Erwägungen.
Es gibt weitere Requisiten im Studio. Um Wills Gäste herum sind Bildschirme aufgebaut. Darauf: große, stachelige Viren, leuchtend blau auf schwarzem Grund. "Deutschland im Ausnahmezustand - gewinnen wir den Kampf gegen das Coronavirus?" lautet das Thema des Abends. Einzig der Bildschirm zur Linken der Moderatorin zeigt ein anderes Bild. Zu sehen ist Markus Söder, die grauen Haare stehen auf einer Seite leicht ab, die Augen sind klein.
Am Nachmittag saß Bayerns Ministerpräsident in einer Videoschalte mit der Kanzlerin und den anderen Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten. Jetzt stellt er sich einer angriffslustigen Anne Will. Die will wissen, warum er, Söder, trotz der Verständigung auf Maßnahmen zur Kontaktreduzierung an seinen Ausgangsbeschränkungen festhalte: "Ist die Lage in Bayern so viel gefährlicher als anderswo oder geht's Ihnen darum, als der härteste Corona-Bekämpfer wahrgenommen zu werden?"
Söder reagiert angefasst. "Das ist eine sehr unangemessene Einschätzung", sagt der CSU-Politiker, der in den vergangenen Wochen mit viel Lob bedacht worden ist für sein ungewohnt maßvolles Auftreten in dieser Gesundheitskrise. Söders Vorpreschen bei der Beschneidung bürgerlicher Freiheiten am vergangenen Freitag hatte seine Kritiker dann allerdings wieder lauter werden lassen - in der Telefonkonferenz am Nachmittag soll es vor allem zwischen ihm und NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) gekracht haben. "Wie zerstritten sind Sie?", fragt Will.
"Ja, gar nicht", antwortet der Monitor-Söder. "Es geht doch jetzt um eine ganz tiefernste Sache, es geht wirklich um Leben und Tod. Da ist es doch selbstverständlich, dass jeder überlegt, was der beste Weg für unser Land ist." Man könne in Bayern auch noch an die Luft - "keiner will jemanden einsperren". Der Mann der markigen Worte findet nicht zum ersten Mal in jüngerer Vergangenheit moderierende Formulierungen - zumindest öffentlich: Man habe eine "ziemliche Grundlage für alle" erreicht. Für die Vernünftigen ändere sich sehr wenig oder kaum etwas. "Für die Unvernünftigen haben wir endlich ein klares Regelwerk."
Anne Will scheint dem neuen Söder nicht so recht zu trauen. Vielleicht weiß sie auch einfach nicht, wie sie mit den veränderten Realitäten im Fernsehstudio umgehen soll: Plötzlich nutzen Politiker die Plattform, die sie ihnen bietet, nicht mehr (oder zumindest nicht mehr nur) für die eigene Positionierung und parteipolitische Scharmützel - es scheint tatsächlich um die Sache zu gehen. Jedenfalls versteigt sich die Moderatorin in das, was sonst in den Zuständigkeitsbereich ihrer politischen Gäste fällt - sie versucht, zu spalten. "Hat sich Armin Laschet für den Großteil der Republik durchgesetzt?", fragt Will in Richtung Söder.
"Die Menschen müssen jetzt gut die Nerven bewahren"
Der ist nun ernsthaft ärgerlich. "Frau Will, finden Sie die Frage wirklich - Sie dürfen sie natürlich stellen, logischerweise -, aber finden Sie diesen Maßstab, den wir jetzt da anlegen, wirklich der Sache, wenn's um Leben und Tod geht, angemessen? Zu fragen, wer oder an welcher Stelle setzt sich mehr oder weniger durch?"
Wie gesagt: Hier spricht Markus Söder. Vor gar nicht allzu langer Zeit wären eben solche Fragen wohl noch der Gastgeberin selbst gekommen.
Bevor sich die neuen Verhältnisse verfestigen können, muss Söder aber auch schon wieder los. Er hat viele Gespräche zu führen gerade, diesen Hinweis in eigener Sache erlaubt er sich dann doch. Nun kommen auch die anderen Teilnehmer der Runde zu Wort, zumindest vorübergehend. Die Virologin Melanie Brinkmann stellt Erfolge durch die nun beschlossenen Kontaktregeln in Aussicht. Notfallmedizinerin Bernadett Erdmann warnt vor italienischen Verhältnissen und appelliert an die Politik, dem Preiswucher bei medizinischer Schutzausrüstung Einhalt zu gebieten. Und Sebastian Fiedler, Bundesvorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, beschwört den europäischen Geist in Krisenzeiten.
Vor ein paar Wochen noch wäre wohl jeder einzelne dieser Beiträge ein Talkshow-Glanzpunkt gewesen. Doch in diesen Tagen sind es die Politikerstatements, die hängen bleiben. Vielleicht klammert sich mancher auch daran.
"Die Menschen müssen jetzt gut die Nerven bewahren", sagt Kanzleramtschef Helge Braun, dessen Phlegma plötzlich angenehm beruhigend wirkt. Er spricht vom Ende der Corona-Krise, aber auch von "bitteren Spuren", die bleiben werden. Ähnlich formuliert es kurz darauf der saarländische Ministerpräsident Tobias Hans. "Man darf den Menschen da nichts vormachen", sagt der CDU-Mann. "Die Entscheidungen, die wir heute treffen, um gesundheitliche Gefahren abzuwehren, die werden wiederum auf der anderen Seite Löcher reißen und uns neue Probleme schaffen."
Die Zeiten, in denen in Fernsehrunden große Versprechungen wie Kamelle zu Karneval ausgegeben werden, scheinen vorerst vorbei. Man gibt sich demütig in der Corona-Krise. "Es ist auf keinen Fall jetzt die Zeit der politischen Gräben", sagt Hans, "es ist nicht die Zeit der Populisten, wie wir zum Glück merken, und es ist auch nicht die Zeit der parteipolitischen Kämpfe."
Auch er ist übrigens nur ins Studio zugeschaltet. Näher dran an den Bürgern waren Deutschlands Talkshow-Politiker dennoch selten.
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