"Anne Will" zum Niedriglohn:Endstation Notunterkunft

Anne Will; Anne Will 03.03.2019

Wenn der Verdienst kaum zum Leben reicht: Anne Will diskutierte mit ihren Gästen über die Folgen von niedrigen Löhnen.

(Foto: NDR/Wolfgang Borrs)

Menschen mit Vollzeitjobs, die wohnungslos sind - arme Rentner, die mit Anträgen drangsaliert werden: Anne Will lässt über die Folgen von niedrigen Löhnen diskutieren. Einen Berliner Sozialarbeiter packt angesichts der Politiker-Plattitüden die Wut.

TV-Kritik von Thomas Hummel

Der Berliner Guido Fahrendholz wirkt etwas eingezwängt inmitten des Publikums. Die Zuschauerränge im Studio der Talksendung Anne Will lassen einem breitschultrigen Kerl wie ihm gerade genug Platz, um halbwegs bequem zu sitzen. Und dann rutscht er auch noch die ganze Zeit nervös herum, wie er sagt. Weil er den Damen und Herren in ihren cremefarbenen Sesseln vorne auf der Bühne gerne die Meinung geigen würde. Der Gedanke kommt auf, dass er besser in einen der Sessel passen würde. Dann könnte er sich auch viel öfter einbringen. Denn Guido Fahrendholz hat wirklich etwas zu sagen.

Zum Beispiel: "Eine Gesellschaft ist immer nur so stark wie ihr schwächstes Glied." Ein Satz wie gemalt für diese Sendung, in der es um Menschen in Deutschland mit argen finanziellen Problemen geht. Im Speziellen um die, die trotz Arbeitsstelle in Not sind und deshalb später auch eine niedrige Rente beziehen. "Niedriger Lohn, magere Rente - was ist uns Arbeit wert?" heißt die Sendung. Schade, dass der im Publikum sitzende Fahrendholz dabei nur zwei Mal aufgerufen wird.

Er öffnet die Tür hinaus in eine Welt, die vielen unbekannt ist. In die Welt der Menschen mit sehr wenig Geld. Und ohne Wohnung. Er arbeitet als Koordinator einer Notunterkunft in der Storkower Straße im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg. Anne Will fragt ihn, ob es stimme, was sie in ihrer Redaktion "echt hart" finden: dass Menschen in Vollzeitjobs zu ihm in die Einrichtung kämen? Antwort: "Die Zahlen vermehren sich und das ist erschreckend."

Verantwortung? Joa, ein bisschen vielleicht

Es seien Menschen aus Berufen oder Branchen, die von der Wirtschaft gerne als Kollateralschaden in Kauf genommen würden. "Wie eben Reinigungskräfte, wo die Menschen mit Löhnen auskommen müssen, die an einer sozialen Realität vor allem in urbanen Ballungsräumen völlig vorbeigehen", schimpft Fahrendholz. Er rutscht in diesem Moment zwar nicht auf seinem Stuhl herum. Dennoch ist spürbar, dass er innerlich brodelt. Denn dort vorne sitzen Vertreter der CDU (Mike Mohring, Landesvorsitzender in Thüringen), der SPD (Malu Dreyer, Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz), von den Grünen (Katrin Göring-Eckardt, Fraktionsvorsitzende) - und damit fast aller Parteien, die in den vergangenen Jahren ein Anschwellen der Armutsprobleme zumindest nicht verhindert haben.

Anne Will fragt für ihre Verhältnisse forsch und nachdrücklich, wer denn nun die Verantwortung übernehmen will. Etwa dafür, dass der Niedriglohnsektor im Land seit Jahren größer wird, inzwischen sind es schon mehr als vier Millionen Arbeitnehmer. Sie verdienen weniger als zwei Drittel des mittleren Lohns, das sind etwa zehn Euro pro Stunde. Deutschland hat innerhalb der Europäischen Union einen der größten Niedriglohnsektoren, hinter ein paar mittelosteuropäischen Staaten und Zypern. Also: Verantwortung? Joa, ein bisschen vielleicht.

Göring-Eckardt kritisiert sich selbst, weil die Grünen damals bei der Einführung der Hartz-IV-Gesetze nicht einen Mindestlohn mit eingeführt haben. SPD-Frau Dreyer stimmt zu. CDU-Mann Mohring (der eine Wollmütze trägt, weil er wegen einer Krebserkrankung eine Chemotherapie absolviert) spricht von Mitverantwortung - aber der Staat habe auch lange kein Geld gehabt.

Und dann ist da noch Reinhold von Eben-Worlée, Präsident des Verbands der Familienunternehmer. Verantwortung für die niedrigen Löhne? Nicht doch. Im Gegenteil. Die Unternehmer würden freiwillige Leistungen bezahlen, sie bildeten junge Menschen aus. Es käme eben auf Branchen und Regionen an. Und bei Problemen müsse der Staat was tun. Zum Beispiel findet es Eben-Worlée beunruhigend, dass seine Mitarbeiter in Hamburg keine bezahlbare Wohnung mehr finden, einige würden von Mecklenburg-Vorpommern aus pendeln.

"Dann beginnt die Tortur zu den Sozialämtern"

Eben-Worlées Familienunternehmer machen seit Jahrzehnten Lobbyarbeit etwa gegen eine höhere Erbschaftsteuer oder derzeit für die Abschaffung des Solidaritätszuschlags. Zur neuen Sozialoffensive der SPD schrieb Eben-Worlée: "Mit dem Abschied von der Agenda 2010 verabschiedet sich der SPD-Vorstand von jeglichem ökonomischen Sachverstand. Die geplante Sozialstaatsreform ist eine naive Mischung aus sozialpolitischem 'Wünsch-dir-was' und kompletter Ignoranz der Finanzierungsfrage." Den Mindestlohn findet sein Verband auch nicht so toll.

Wobei man sich fragt, wie in Städten wie Hamburg oder Berlin jemand mit einem Mindestlohn-Verdienst von derzeit 9,19 Euro pro Stunde leben kann. Angesichts der stetig steigenden Mieten. Guido Fahrendholz gibt einen Einblick: Die Leute könnten die Energiekosten nicht mehr zahlen oder es häuften sich Mietschulden an. Wenn sie dann aus der Wohnung fliegen, "beginnt eine Spirale, die ist kaum vorstellbar". In der gleichen Gegend könnten sie keinen Wohnraum zu einem bezahlbaren Preis finden, nicht einmal mit weniger Quadratmetern. "Dann beginnt die Tortur zu den Sozialämtern, zum Grundsicherungsamt und so weiter", berichtet Fahrendholz. Doch Vermieter seien nicht bereit, Menschen mit Sozialleistungen, Lohnersatzleistungen, in ihre Wohnungen zu lassen. Also Notunterkunft.

Was tun? Petra Vogel, Reinigungskraft und eigentlich als "Stimme von unten" in der Sendung vorgesehen, berichtet von ihrem überaus freundlichen Vermieter, der seit acht Jahren die Miete nicht angehoben habe. Applaus im Publikum dafür. Wer nicht so viel Glück hat, dem kann auch sonst keiner helfen. Den Politikern im Rund fehlen Ideen und sie müssen sich zu Recht anhören, dass in vielen Städten Regierungen ihrer Parteien jahrzehntelang soziale Wohnungsbaugesellschaften verkauft haben und viel zu wenig Sozialwohnungen bauen ließen. Damit wieder zu Guido Fahrendholz. Jetzt geht es um Rentner, die ihre Miete nicht mehr bezahlen können.

Forderungen an Rentner, die wie Drohungen klingen

"Dann muss er sich eine neue Wohnung suchen, und da das immer schwieriger wird, die Mieten steigen, hab' ich den Rentner dann bei mir in der Notunterkunft. Und ja, es werden auch hier immer mehr." Richtig in Fahrt kommt er bei dem Umstand, dass arme Rentner oft Anträge bei den Sozialstellen stellen müssen. "Es ist für mich eine Frechheit: Bei einem Rentner wird sich die finanzielle Situation nicht mehr nach oben bewegen. Warum werden diese Menschen ständig mit neuen Anträgen, mit Forderungen, die wie Drohungen ankommen, drangsaliert und gezwungen, sich ihren Lebensunterhalt immer wieder einzufordern?" Weil die älteren Menschen mitunter die Selbstachtung verlören, würden manche von ihnen irgendwann aufhören, das Geld zu beantragen.

Für all die Betroffenen hält die Runde die Hoffnung vor, dass die anwesenden Vertreter der Parteien ihre Ankündigungen umsetzen. Dreyer, Göring-Eckardt, Mohring - sie alle wollen jetzt wirklich was tun für die wirtschaftlich armen Menschen im Land. Vielleicht sollte man in einem Jahr Guido Fahrendholz fragen, ob sich tatsächlich etwas getan hat.

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