Süddeutsche Zeitung

Anne Will:Klein-Britannien und seine Ex Europa

Der Brexit-Talk bei Anne Will gleicht einem Scheidungsgespräch: Rolf-Dieter Krause fragt, warum die Briten nicht einfach gehen. Die wiederum schicken ihre Anwältin vor.

TV-Kritik von Paul Katzenberger

Die psychologischen Folgen einer Scheidung können gravierend sein, das ist wissenschaftlich hinreichend belegt. Schon in den Achtzigerjahren beschrieb der amerikanische Soziologe Frank Furstenberg, wie sich Geschiedene, um sich von der Last des Scheiterns ihrer Ehe zu befreien, von ihrem früheren Partner scharf distanzieren, und zwar mit einer Vehemenz, die einem "rituellen Tabu" gleiche. Die Briten haben sich am vergangenen Freitag für die Scheidung von der EU entschieden, doch würde Großbritannien nun zum Tabu für die EU oder die EU zum Tabu für Großbritannien, wäre das äußerst unvernünftig - allein der wirtschaftliche Schaden, der durch den Brexit ohnehin gewaltig ist, würde dadurch noch wachsen.

Und doch ließen die geladenden Befürworter und Gegner des Brexits der Runde bei Anne Will, die wegen der historischen Dimension des britischen Referendums sogar ihre Sommerpause unterbrach, das Gefühl aufkommen, dass die jeweils andere Seite schon zum Tabu geworden ist.

Wie bei einem alten Ehepaar wird zwischen London und Brüssel inzwischen ja auch gestritten - in einfachsten Fragestellungen, ob etwa die Briten den Antrag auf Austritt aus der EU nach Paragraf 50 des EU-Vertrages erst im Oktober stellen, wie es sich in London plötzlich sogar Leute wie Boris Johnson vorstellen können, denen es bislang gar nicht schnell genug mit dem EU-Austritt zu gehen schien. Oder, ob dieser Antrag sofort oder am Dienstag erfolgen soll, wie es EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und der Präsident des Europäischen Parlamentes, Martin Schulz, einmütig fordern.

"Sie können jetzt raus. Und Sie tun's nicht"

An dieser Frage arbeiteten sich bei Anne Will sogleich beide Seiten ab: treue Europäer wie der Brüsseler ARD-Korrespondent Rolf-Dieter Krause und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen für die Position Junckers sowie Euro-Skeptiker wie die britische Politikerin und Brexit-Befürworterin Anna Firth und der slowakische Europa-Parlamentarier Richard Sulík für die Position Johnsons.

"Also bitte schön, Sie können jetzt raus", fragte Krause seine britische Gesprächspartnerin provokativ. "Und Sie tun's nicht. Warum tun Sie es nicht einfach?"

Sie sei Anwältin, antwortete Firth und machte - mit Rückendeckung von Richard Sulík - dann rechtsformalistische Argumente dafür geltend, dass es den Brexit-Befürwortern schlagartig gar nicht mehr so eilig mit ihrem Anliegen ist: "Wir sind immer davon ausgegangen, dass Artikel 50 ganz klar darlegt, dass ein Rahmenwerk geschaffen werden muss, bevor er aktiviert werden kann - und das dauert eine gewisse Zeit."

Das war selbst für eine so abgebrühte Berufspolitikerin wie Ursula von der Leyen zu viel: "Das erschüttert mich jetzt. Wenn man so eine Brexit-Kampagne startet, dann muss man sich doch vorher über die Regeln klar sein, die in der EU herrschen." Der Schlagabtausch zeigte, dass Anne Wills Frage: "Finden die Eliten jetzt eigentlich einen Umgang mit dem, was das Referendum ihnen aufgegeben hat?" ein Ausdruck allzu berechtigter Skepsis war.

An Niveau gewann die Debatte auch nicht durch Sulíks Forderung, dass Jean-Claude Juncker und Martin Schulz nun unverzüglich zurücktreten sollten, die er mit der allgemein gesunkenen Attraktivität Europas begründete, ohne freilich zu erwähnen, dass die EU für Großbritannien eigentlich noch nie so richtig attraktiv war.

Und das, obwohl Europa den Briten stets sehr weit entgegenkam, woran Rolf-Dieter Krause noch einmal erinnerte: "Wenn ein Land das Europa bekommen hat, das es wollte, dann war das sehr weitgehend Großbritannien. Großbritannien hat darauf gedrängt, den Binnenmarkt zu vollenden, es möglichst dabei auch zu belassen. Und alles, wo Europa über diese Fragen hinausging, hat Großbritannien nicht mitgemacht. Also bitteschön, wo ist die Unzufriedenheit? In der EU hat sich Großbritannien doch großartig entwickelt."

Die Souveränität der Staubsauger

Wie wenig die große Distanz, die die Briten gegenüber Europa schon immer hatten, rein rational nachzuvollziehen ist, machte in der Diskussion auch noch einmal von der Leyen klar, die sich mit Krause mehrmals die Bälle zuspielte: "Das Erste, was so schmerzhaft ist", sagte die Verteidungsministerin, "dass wir vergessen haben, wie viel Gutes wir mit den Briten in der EU geschafft haben."

Als die Briten der damaligen EG vor 43 Jahren beigetreten seien, habe das Land noch veraltete Industriestrukturen gehabt, und nichts von dem modernen Finanzplatz, das es heute sei. "Sie werden an Relevanz verlieren", sagte von der Leyen an Firth gerichtet. "Im Weltsicherheitsrat vertritt Großbritannien nicht mehr 500 Millionen Europäer sondern nur noch 64 Millionen Briten." Das Bitterste für Großbritannien sei aber die Spaltung innerhalb des Landes, jung gegen alt, Nord gegen Süd, Stadt gegen Land, die das Referendum ausgelöst habe. Diese zu überwinden, betrachtete in der Runde der Brexit-Gegner und frühere britische Botschafter in Deutschland, Sir Peter Torry, als nun unmittelbar anstehende Herausforderung.

Selbst die Souveränität, die sich Großbritannien nach Auffassung Firths durch die Brexit-Entscheidung wieder zurückgeholt habe, stellte Krause in Abrede. Denn die Souveränität eines Landes stehe in der heutigen globalisierten Welt oft nur noch auf dem Papier: "Großbritannien, und wenn die Abspaltung von Schottland erfolgt, dann Klein-Britannien ist im Weltmaßstab ein ziemlich kleines Land. Neben China, Indien und den USA sind wir in Europa alle ziemlich klein."

Ob die Staubsauger, deren Watt-Leistung sich die Briten künftig nicht mehr von Brüssel vorschreiben lassen müssen, den Graben überbrücken können, der sich in dieser Diskussion zwischen separatistischen Briten und einigungswilligen Europäern auftat, darf bezweifelt werden.

Das nächste Mal talkt Anne Will wieder am 16. September. Ob dann der Austritts-Antrag der Briten in Brüssel schon vorliegt?

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