"Anne Will" zum Brexit:"Sie wollen, dass Großbritannien Schaden nimmt"

Anne Will; ANNE-WILL-Sendung vom 20.01.2019

Anne Will wollte von ihren Gästen wissen, wer das Brexit-Chaos noch verhindern kann. Eine Antwort blieben die schuldig.

(Foto: NDR/Wolfgang Borrs)

Ein konservativer Abgeordneter aus Großbritannien hat bei "Anne Will" keine Lösung im Brexit-Dilemma parat. Dafür aber Vorwürfe in Richtung EU. Sahra Wagenknecht gibt die Kämpferin für die sozial Schwachen - mit wackligen Argumenten.

TV-Kritik von Thomas Hummel

Es ist bisweilen erhellend und ein Aufbruch zu neuen Horizonten, wenn man inmitten eines schier unlösbaren Konflikts einmal die Möglichkeit hat, sich in die Gegenseite hineinzuversetzen. Bei Anne Will sitzt am späten Sonntagabend Greg Hands, honoriges Mitglied des britischen Parlaments, Abgeordneter der Regierungspartei der Konservativen. Weil er in seinen jungen Jahren "von der Freiheit der Europäischen Union" profitierte, wie er sagt, lebte er einige Jahre in Berlin, hat eine deutsche Frau und spricht fast ohne Akzent die hiesige Sprache. Ein idealer Gast also für eine deutsche Talkshow mit dem Thema: "Streit um den Brexit - wer kann das Chaos noch verhindern?"

Hands stimmte beim Referendum 2016 für den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union (Berlin hat ihm offenbar gefallen). Angesichts der Entscheidung pro Brexit will er die Sache aber jetzt durchziehen. Er lehnte den von Theresa May vorgebrachten Deal zwischen der EU und seiner Regierung am vergangenen Dienstag ab. Um dann am Mittwoch der Regierung May sein Vertrauen auszusprechen. Der 53-Jährige repräsentiert damit das ganze Durcheinander in London.

Also Mister Hands, was soll nun geschehen? "Der Vertrag ist zu unvorteilhaft für Großbritannien", sagt er und blickt dabei sehr ernst. Der sogenannte Backstop - also die Versicherung, dass zwischen dem EU-Mitglied Irland und der britischen Provinz Nordirland keine harte Grenze entstehen soll - führe faktisch zu einer innerbritischen Handelsgrenze zwischen Nordirland und dem Rest des Landes. In der Zollunion mit der EU zu bleiben, wäre total unbeliebt bei den Briten und wahrscheinlich sehr unvorteilhaft für das Land. Denn: In Brüssel würden dann Regeln beschlossen, an die sich auch die Briten halten müssten, obwohl sie nicht mehr mitentscheiden dürften. Hands: "Wenn man keinen Sitz am Tisch hat, landet man wahrscheinlich auf der Speisekarte."

Forderungen und Wünsche, die sich gegenseitig ausschließen

Die Argumente sind verständlich, aber auch plakativ. Hands fordert "die Hilfe von Brüssel", ein Entgegenkommen, damit die Briten und vor allem seine Konservative Partei zustimmen könne. Nur: Welche Hilfe genau?

Denn es ist ja so, und das war von Beginn an das Problem mit diesem vermaledeiten Brexit: Die Briten wollen raus aus der EU. Sie wollen die absolute Hoheit über Gesetze und Handelsfragen zurückerlangen, also aus dem Binnenmarkt und der Zollunion mit der EU austreten. Das führt dazu, dass an den Grenzen zwischen Großbritannien und der EU Kontrollen durchgeführt werden müssen. Also auch zwischen Irland und Nordirland. Hier passieren monatlich fast 400 000 Lastwagen die derzeit unsichtbare Grenze. Da der Frieden auf der irischen Insel sehr fragil ist, will hier niemand Schlagbäume und Güterkontrollen. Angeblich auch nicht die Briten. Also müsste zumindest Nordirland in der Zollunion mit der EU verbleiben. Das wollen die Briten aber nicht, weil dann eine Zollgrenze zwischen Nordirland und dem Rest entstünde. Also müsste ganz Britannien in der Zollunion mit der EU bleiben, was sie aber ... Siehe oben.

Es liegen Forderungen und Wünsche auf dem Tisch, die sich gegenseitig ausschließen. Und nun, Mister Hands? Er verweist darauf, dass die Handelsbilanz zwischen Irland und Nordirland ja ohnehin sehr klein sei. Quasi vernachlässigbar. Zwischen Nordirland und dem Rest Britanniens fahren viel mehr Güter hin und her und allein zwischen den Häfen Calais (Frankreich) und Dover (England) 30 Mal so viel. Hands plädiert also für eine offene Grenze schlichtweg aus minderer Bedeutung. Really, Mister Hands?

Gesucht: eine unsichtbare Grenze, die den Warenverkehr kontrolliert

Nachdem seine Premierministerin mehrfach Großbritannien nach dem Brexit als Steuerparadies für Unternehmen angekündigt hat und das Land auch sonst seine eigenen Regeln machen will (zum beispiel für Umwelt- und Sozialstandards), müsste Hands klar sein, dass die EU so ein Einfallstor in eines ihrer Länder niemals zulassen kann. Auch die Welthandelsorganisation WTO dürfte da nicht tatenlos zusehen.

Hands' letztes Argument: "Ich denke, man kann eine Technologie finden, um das Problem zu lösen." Also eine Zollabfertigung überflüssig machen. Darüber wird seit Monaten beraten, doch wie das aussehen könnte, ist bis heute nicht bekannt. Bislang gibt es nirgendwo auf der Welt eine solche unsichtbare Grenze, die dennoch den Warenverkehr kontrolliert. So eine Technologie binnen zwei Monaten zu finden und an den mehr als 200 Übergängen zu installieren, erscheint illusorisch.

Der Auftritt von Greg Hands im deutschen Fernsehen hinterlässt wieder einmal Ratlosigkeit. Was wollen die Briten? Die einen fordern Dinge, die sich gegenseitig ausschließen. Die anderen einen No-Deal-Brexit, dem eine harte Grenze in Irland folgen müsste. Die Dritten wollen in der Zollunion mit der EU bleiben, die Vierten ein zweites Referendum. Jean Asselborn, luxemburgischer Außenminister, warnt im TV-Studio eindringlich: "Wenn wir am 30. März kein Abkommen haben, sind wir auf einem sehr, sehr gefährlichen Weg." Er erwartet Chaos an den Grenzen, Handelsbarrieren, den Verlust von Arbeitsplätzen. Und eine große Portion Missstimmung. Die sich ohnehin schon andeutet.

"Die Leute sagen, es ist unmöglich Brüssel zu verlassen"

Hands hat zwar keine Lösungen dabei, dafür Vorwürfe in Richtung EU. Die Position gegenüber London sei in Brüssel "total negativ". "Was soll das? Die Leute sagen, es ist unmöglich Brüssel zu verlassen. Sie wollen, dass Großbritannien Schaden nimmt." Werden da aus schwierigen Verhandlungen vielleicht bald handfeste Ressentiments?

Vorwürfe gegen die EU bringt in der Sendung auch Sahra Wagenknecht vor. Die Fraktionsvorsitzende der Linken spricht von einer Union der Eliten, der Unternehmen und der Banken, und nicht der Bürger. Da trifft sie einen Nerv. Doch sie unterfüttert ihre These mit Beispielen, die einen zweitägigen Faktencheck nötig machen würden. So verweist sie auf lettische Bauarbeiter zu lettischen Löhnen auf schwedischen Baustellen, worauf die Schweden gestreikt hätten und der Europäische Gerichtshof dies untersagt habe. Der Fall "Lavan" spielte vor mehr als elf Jahren und betraf die sogenannte EU-Entsenderichtlinie. Was Wagenknecht nicht ausführt: Die EU hat diese inzwischen durchaus verändert, sodass derartiges Lohndumping zumindest stark erschwert wird.

Zudem ist ihre These, dass die Italiener bei einem eigenen Referendum derzeit für einen EU-Austritt stimmen würden, mindestens stark umstritten. Zuletzt teilte die Europäische Kommission mit, dass bei der von ihr durchgeführten Umfrage "Eurobarometer" die Beliebtheit der EU in Italien stark zugenommen habe. Insgesamt hätten mehr als zwei Drittel aller EU-Bürger angegeben, dass ihr Land von der EU-Mitgliedschaft profitiere.

Bis niemand mehr verstanden wird

Sahra Wagenknecht beschädigt ihre Rolle als Kämpferin für die sozial Schwachen mit wackligen Argumenten. Norbert Röttgen von der CDU platzt dann auch der europäische Kragen, er geißelt Wagenknechts "allgemeine Polemik" und stellt sie in eine Reihe mit den Brexiteers Nigel Farage und Boris Johnson. Es folgt ein Schlagabtausch, in dem sich Röttgen und Wagenknecht gegenseitig ins Wort fallen, bis niemand mehr verstanden wird.

Damit hat Anne Wills Talkshow am Ende noch ein wenig Show zu bieten. Aber eine Antwort auf die Frage der Sendung, "Wer kann das Chaos noch verhindern?", ist leider nicht in Sicht.

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