Ambitionierte "Tatort"-Folgen:Zu hoch fürs Publikum

Tatort: HAL

Kino oder Krimi? Zunächst eine Szene aus dem aktuellen "Tatort"...

(Foto: SWR)

Der SWR-"Tatort" "HAL" probierte es am Sonntagabend mit cineastischen Anleihen. Wenn der Deutschen liebster Krimi innovativ wird, jubelt oft das Feuilleton, und die Zuschauer schimpfen.

Von Marc Hairapetian

Was ist im Tatort nicht schon alles verhandelt worden, von sich selbst spielenden Schauspielern über Hellseherei, Terrorismus, Massentierhaltung bis zu Transsexualität. Aber es hat 46 Jahre oder 990 Folgen gedauert, bis erstmals ein Tatort in der - zugegebenermaßen nächsten - Zukunft spielt.

Sieh nach bei Kubrick, so etwas Ähnliches muss sich Niki Stein, Regisseur und Drehbuchautor des Stuttgarter Tatort gedacht haben, in Abwandlung des Cole-Porter-Musical-Songs "Brush up Your Shakespeare!" - "Schlag nach bei Shakespeare".

Er ließ am Sonntag "HAL" aufs Publikum los, als 991. Folge des Krimi-Klassikers. Gespickt mit zahlreichen Zitaten wie dem berühmten Knochenflug und dem titelgebenden Namen des Bordcomputers aus 2001: Odyssee im Weltraum (1968), dem wohl philosophischsten aller Science-Fiction-Filmklassiker, war die Auflösung am Ende erschreckend konventionell.

Der eigene Freund meuchelte die junge Schauspielschülerin, die sich mit Jobs bei einem Online-Escortservice und der Softwareschmiede Blue Sky mehr als nur das Studium finanzierte. Und dies, obwohl zuvor ein selbstlernendes, rachsüchtiges Überwachungsprogramm die ermittelnden Kommissare Lannert (Richy Müller) und Bootz (Felix Klare) hinters Licht geführt hatte. Am Ende also eher kleines Kino.

Der SWR-Tatort mit den Zentralthemen Big Data und Kontrollstaat gehört dennoch zu den ambitioniertesten Werken der am längsten laufenden Krimireihe im deutschsprachigen Raum, auch wenn er als eilige Fernsehproduktion formal wie inhaltlich mit Kubricks cineastischem Geniestreich nicht mithalten kann - schon aus Budgetgründen.

Ulrich Tukur erwies Schauspieler-Genius Oskar Werner seine Reverenz

Steven Spielberg bezeichnete 2001: Odyssee im Weltraum einmal als "Urknall für meine Generation der Filmemacher". Tatort-Regisseur Niki Stein wiederum preist den Film als Inspirationsquelle und sagt: "Der gläserne Mensch ist in den kommerziellen Gebilden von Großkonzernen wie Facebook, Google oder Amazon schon jetzt viel mehr Realität als in staatlichen Überwachungssystemen."

Es ist allerdings nicht so, dass der Tatort erst jetzt das Zitieren aus der Kinohistorie entdeckt hat. Vor zwei Jahren erhitzte der preisgekrönten HR-Beitrag "Im Schmerz geboren" (Regie: Florian Schwarz) die Gemüter, ein von Shakespeare inspirierter, eigenwillig inszenierter hessischer Spaghettiwestern mit Anleihen an Sergio Leones Spiel mir das Lied vom Tod (1968) und Quentin Tarantinos Kill Bill Vol. 1 & 2 (2003/04).

Der von Ulrich Tukur brillant gespielte Ermittler Murot erwies dabei auch dem Schauspieler-Genius Oskar Werner (Jules et Jim, 1961) seine Reverenz.

Der "Tatort" ist ein ziemlich konventionelles Gebilde der öffentlich-rechtlichen Arbeitsgemeinschaft geblieben

Die Reaktionen auf den Tatort sind immer dann sehr bunt, wenn "das letzte Lagerfeuer", wie der Regisseur Philipp Stölzl die Krimi-Reihe genannt hat, Innovation probiert und der am Flatscreen versammelte Fan-Gemeinde ganz großes Kino präsentieren will. Denn der Tatort ist, aller selbst propagierter Erneuerung zum Trotz, ein ziemlich konventionelles, wenn nicht gar spießiges Gebilde der öffentlich-rechtlichen Arbeitsgemeinschaft geblieben. Fast jedesmal, wenn die TV-Reihe diesen Rahmen sprengte, schrieben die Feuilletons "Vivat!", doch das Publikum grauste es.

Bereits 1974 wurde die Folge "Tote Taube in der Beethovenstraße" als irritierend und umständlich wahrgenommen. Der ansonsten recht unorthodoxe Zollfahnder Kressin, gespielt von Sieghardt Rupp, der im vergangenen Jahr gestorben ist, hatte in dieser Folge nur eine untergeordnete Rolle als Patient im Krankenhaus.

Das lag daran, dass der schon damals altgediente Hollywood-Regisseur Samuel Fuller lieber seine Ehefrau Christa Lang ausführlich in Szene setzte. Trotz oder gerade wegen der ungewöhnlichen Kameraarbeit des Polen Jerzy Lipman und des psychedelischen Soundtracks der deutschen Krautrock-Formation The Can erntete dieser Tatort Verrisse.

Schweigers Tschiller orientiert sich an den Action-Blockbustern aus Hollywood

Der Spiegel schrieb von einem "Reinfall auf höherem Niveau", der vom Publikum als "größter Käse des Jahrhunderts verflucht" worden sei - der es trotzdem in die Lichtspielhäuser der Vereinigten Staaten schaffte.

Ein Unikum, wenn man von den rein fürs Kino produzierten Tatort-Episoden "Zahn und Zahn" (1985), "Zabou" (1987) um den ebenfalls kürzlich verstorbenen hemdsärmeligen Schimanski-Darsteller Götz George sowie dem grottenschlechten, jüngst total gefloppten Til-Schweiger-Action-Egotrip Tschiller: Off Duty absieht.

Vier der sieben Kressin-Fälle für Rupp, der einen schöne Frauen geradezu verschlingenden James-Bond-Verschnitt verkörperte, hatte Wolfgang Menge geschrieben. Mit journalistischer Weitsicht baute er aktuelles Zeitgeschehen wie die Ölkrise oder die sexuelle Revolution ein. Als Schauspieler veredelten früher Größen wie Curd Jürgens ("Rot - Rot - Tot", 1978) oder Roger Moore ("Schatten", 2002) Tatort-Folgen. Heute darf sogar Helene Fischer mitmachen.

Immerhin hat Schweigers Tschiller eine Tradition der Kressin-Fälle wieder aufgenommen, er hat wie sein Amtskollege einen dauerhaften Gegenspieler. Während damals Ivan Desny als Kressins Widersacher Sievers stets davon kam, hatte es Tschiller mit Firat Astan zu tun, gespielt von Erdal Yildiz. Drehbuchautor Christoph Darnstädt und Regisseur Christian Alvart versuchen eher die Action-Blockbuster der Traumfabrik zu kopieren.

Anders Regie-Altmeister Wolfgang Becker, der 1983 für den SWF "Peggy hat Angst" beisteuerte. Hier spielt Hans-Georg Panczak einen sensibel-charmanten Frauenmörder mit der Intensität eines Anthony Perkins als Norman Bates in Psycho (1960).

Schon "Reifezeugnis" war 1977 eine Hommage an Kubrick

Becker setzte das Drehbuch von Norbert Ehry schnörkellos und dicht an der Realität um, als weiteren, heute noch modern wirkender Hitchcock-Suspense-Thriller drei Jahre nach Sir Alfreds Tod.

Starke, kontrastreiche Frauenfiguren - etwa Karin Anselm als vernunftgesteuerte Kriminalhauptkommissarin und Hannelore Elsner als einfühlsame Freundin des Täters - hinterließen Eindruck. Dazu passte der innovative Soundtrack mit dem Warning-Hit "Why Can The Bodies Fly".

Und war nicht auch Wolfgang Petersens Meisterstück "Reifezeugnis" (1977) eine Hommage an Vladimir Nabokov und vor allem, hier schließt sich ein Kreis, Stanley Kubrick?

Die Folge brachte durch das obsessive Schülerin-Lehrer-Verhältnis und verstörende Nacktszenen eine gehörige Portion "Schulmädchen-Report"-Flair in damals noch recht puritanische bundesdeutsche Wohnzimmer, mit Nastassja Kinski als Lolita und Christian Quadflieg als Humbert Humbert. Die Diskussion darüber, ob die Reihe so etwas darf oder damit doch nur sich selbst gefällt, gehörte jedenfalls schon damals fest zum Tatort-Ritual.

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