Im angelsächsischen Raum ist es nicht ungewöhnlich, dass die Presse konkrete Wahlempfehlungen ausspricht. So prangt am Tag des Brexit-Votings auf der Titelseite des Daily Express der Union Jack - und die Schlagzeile lautet passend zur nationalstaatlichen Aufmachung: "Stimmen Sie heute für den Austritt".
Ähnlich eindeutig positioniert sich die Sun: Mit "Independence Day" ist die heutige Ausgabe überschrieben - die Zeitung ruft den 23. Juni 2016 also schon mal zum Unabhängigkeitstag aus. Unabhängig wovon? "Sie können das Vereinigte Königreich heute aus den Krallen der EU befreien."
Zurückhaltender geht es beim Guardian zu, einem eher linken Leitmedium: "Wer wollen wir sein?", fragt die Zeitung ihre Leser. Aus der Unterzeile ist allerdings eine Tendenz herauszulesen. Dort ist die Rede von der Entscheidung einer Nation nach einer der "bittersten politischen Kampagnen seit Menschengedenken".
Auch der konservative Daily Telegraph macht Platz auf der Titelseite für eine Wahlempfehlung: "Eine Welt der Möglichkeit erwartet ein vollständig unabhängiges Vereinigtes Königreich", verspricht das Blatt seinen Lesern. Man hänge keinem vergangenen goldenen Zeitalter Britanniens nach, sondern freue sich auf einen Neuanfang für das Land. Und dann wird es in roten Lettern pathetisch: "Wenn das Referendum an diesem Donnerstag eine Entscheidung zwischen Angst und Hoffnung ist, dann entscheiden wir uns für die Hoffnung."
Und noch eine Anti-EU-Schlagzeile - diesmal auf der Titelseite der Daily Mail: "Nailed: Four Big EU Lies", schreibt die Boulevardzeitung. Frei übersetzt: "Auf den Punkt gebracht: Vier große Lügen der EU". Ein bisschen wichtiger scheint der Daily Mail im Übrigen aber die Frage zu sein, warum Bekleidungsgeschäfte normalgewichtige Frauen als zu dick brandmarken.
Da tut politische Neutralität not. Die altehrwürdige Times überschreibt die Titelseite am Tag der Abstimmung so: "Letzte Umfragen sehen Großbritanniens Zukunft auf Messers Schneide".
Informieren statt überzeugen - das versucht auch der Independent. Viele Zahlen liefert die Zeitung ihren Lesern: zum Beispiel, dass 50 Prozent der Einnahmen britischer Bauernhöfe aus EU-Subventionen stammen, oder dass jedes Jahr gemäß dem Dubliner Abkommen 1000 Migranten aus Großbritannien ausgewiesen werden. Was die Leser aus diesen Zahlen machen, bleibt ihnen überlassen.
Zur Abwechslung ein Boulevardblatt, dass gerne Mitglied der Europäischen Union bleiben möchte. Warum, verdeutlicht der Daily Mirror eindrücklich mit der Grafik eines schwarzen Loches.
i, eine kostengünstige Zeitung, die sich vor allem an Nachrichteninteressierte mit wenig Zeit richtet, beschränkt sich auf das Wichtigste: "Auf die Plätze, fertig - wählen!", titelt die Tageszeitung. Soll heißen: Egal, wie ihr wählt, Hauptsache ihr geht wählen.
Fast schon britisches Understatement ist die Schlagzeile des Morning Star: "Zeit der Entscheidung".
Der Daily Star verpasst David Cameron (links) und Boris Johnson, den Köpfen der Remain- beziehungsweise Leave-Kampagnen, einen Maulkorb - und macht sich zur Stimme des Volkes: "Hinter uns liegen Monate, in denen wir bevormundet, terrorisiert, gemobbt und schamlos angelogen wurden. Heute geht es endlich darum, was wir sagen."
Die Financial Times ist bekannt dafür, sich mehr für nüchterne Fakten als aufgeheizte Stimmungen zu interessieren. Das wird einmal mehr beim Blick auf die heutige Titelseite deutlich: "Vor der historischen Wahl über die EU-Mitgliedschaft steigt in der City die Anspannung". Die "City" ist Londons Finanzzentrum.
Auch der wöchentlich erscheinende Economist hat das Brexit-Votum auf den Titel gehoben: "Geteilt gehen wir unter", titelt das Magazin. Das klingt nach Katastrophenszenario - so oder so.
Ein Riss geht durch Großbritannien, konstatiert auch der New Statesman. Ob sich dieser nach dem Referendum schließt? Fraglich, schließlich habe der traditionelle Culture War zwischen konservativen und liberalen Kräften auf der Insel mit dem Brexit ganz neue Ausmaße angenommen.