Altersfreigaben:Wer kontrolliert, was Jugendliche bei Streamingdiensten sehen dürfen?

Altersfreigaben: Jugendgefährdend oder aufklärerisch? Über die Netflix-Serie "Tote Mädchen lügen nicht" wird heftig diskutiert.

Jugendgefährdend oder aufklärerisch? Über die Netflix-Serie "Tote Mädchen lügen nicht" wird heftig diskutiert.

(Foto: Netflix)

Die Netflix-Serie "Tote Mädchen lügen nicht" zeigt Gewalt so explizit, dass Organisationen warnen, sie könne Traumata auslösen. Der deutsche Jugendschutz greift hier trotzdem nicht.

Von Kathrin Hollmer

Man kann kaum hinsehen. Selbst für Erwachsene sind manche Szenen der Netflix-Serie Tote Mädchen lügen nicht (13 Reasons Why) kaum zu ertragen. Die Schülerin Hannah Baker beobachtet erst, wie eine Freundin von einem Mitschüler vergewaltigt wird, später wird sie selbst vergewaltigt und begeht schließlich Suizid. Man sieht diese Szenen aus nächster Nähe. Auch deshalb reißt die Diskussion über die Verfilmung von Jay Ashers Jugendbuch nicht ab, seit die Serie am 31. März weltweit online ging. Millionen Tweets wurden darüber abgesetzt. Gesundheits- und Suizidpräventionsorganisationen warnten vor der Serie, vor allem, weil die expliziten Szenen Traumata auslösen könnten. In Neuseeland, das zu den Ländern mit der höchsten Suizidrate unter Jugendlichen gehört, dürfen Jugendliche unter 18 Jahren die Serie etwa nur im Beisein eines Erwachsenen sehen.

Eltern wissen oft überhaupt nicht, was ihre Kinder im Netz sehen

In Deutschland ist für solche Bewertungen die Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) der Landesmedienanstalten zuständig - in der Theorie jedenfalls. Weil Netflix kein deutscher Sender ist, sind der KJM in diesem Fall die Hände gebunden; gegen internationale Streamingdienste mit Sitz im Ausland kann die Kommission nicht vorgehen, dazu fehlt ihr die Befugnis. Kontrolliert also niemand, was Kinder und Jugendliche dort sehen können - und das, obwohl die Dienste für die Mediennutzung von Teenagern immer wichtiger werden?

Kinofilme und Inhalte, die auf DVD erscheinen, brauchen in Deutschland eine Altersfreigabe durch die FSK (Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft), die Portale wie Netflix und Amazon übernehmen. Aber für deren Eigenproduktionen gibt es keine solche Regelung, weder durch die FSM (Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter) noch die FSF (Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen). "Wir stehen im Austausch mit den Plattformen", sagt Cornelia Holsten, seit einem Monat Vorsitzende der KJM. Die EU-Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste werde gerade aktualisiert; künftig solle sie Video-Plattformen Mindeststandards auferlegen, insbesondere für den Jugendschutz. Bis dahin tun das manche Anbieter freiwillig. Amazon etwa reicht nach eigenen Angaben Inhalte mit jugendschutzrelevanter Thematik und auch Eigenproduktionen zur Überprüfung durch die FSK ein; Netflix äußerte sich auf Nachfrage nicht dazu.

Netflix hat die Serie ab 16 freigegeben

Zu den Inhalten, vor denen die KJM Kinder und Jugendliche schützen will, gehören "gewaltverherrlichende, rassistische, pornografische Inhalte, Hate Speech und auch selbstgefährdende Verhaltensweisen", sagt Holsten. Es sei jedoch kein Thema per se ausgeschlossen, auch nicht Suizid. "Kritisch wären hier Anleitungen oder Aufforderungen zum Suizid", sagt sie. Beides zeigt die Serie nicht. Dazu passt, dass bei der KJM bislang keine Beschwerden zu der Serie eingegangen sind. "Ich habe schon darauf gewartet, aber das Rumoren hat die KJM und die Landesmedienanstalten noch nicht erreicht", sagt Holsten.

Die Diskussion um die Serie decke ein anderes Problem auf

Netflix hat die Serie ab 16 freigegeben. Wer auf seinem Konto die Kindersicherung aktiviert hat, muss einen PIN-Code eingeben, um die Serie zu sehen. Bisher erscheint vor drei Folgen eine Warnung vor der drastischen Darstellung von Vergewaltigung, Gewalt und Suizid. Zusätzlich ordnen in einer halbstündigen Dokumentation unter anderem eine Psychiaterin und eine Psychologin die Serie ein, und auf der Webseite 13reasonswhy.info listet Netflix Anlaufstellen für Suizidprävention auf der ganzen Welt auf. "Wir sind gerade dabei, zusätzliche Hinweise vor die erste Folge der Serie hinzuzufügen, um sicherzugehen, dass den Zuschauern bewusst ist, welch schwierige Themen die Serie verhandelt", gibt Netflix in einem Statement an.

Die Kindersicherung und Hinweise sieht Cornelia Holsten als "Geste in die richtige Richtung". Die Diskussion um die Serie decke aber vor allem ein anderes Problem auf: "Ich habe den Eindruck, dass viele Eltern nicht wissen, welche Serien und Filme ihre Kinder im Internet sehen", sagt sie. Auf Netflix zum Beispiel können Eltern eigene Accounts für ihre Kinder einrichten. Tatsächlich dürften technisch versierte Jugendliche eher für ihre Eltern das Streaming-Abo samt PIN verwalten, als andersherum. Umso wichtiger sei es für Eltern, über das Thema Bescheid zu wissen. Allzu viel Sorgen scheinen sich die aber nicht zu machen: Holsten ist seit 2009 bei der KJM und hat bisher keine einzige Beschwerde über Inhalte eines Streamingdienstes erlebt.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: