Süddeutsche Zeitung

Pressefreiheit:Die letzten Tage in Kairo

Leicht hatte es Ruth Michaelson nie als Korrespondentin des "Guardian" in Ägypten. Dann kam die Corona-Krise. Die Chronologie eines Rauswurfs.

Von Viktoria Spinrad

Es ist Mittwoch, der 18. März, 21:30 Uhr, als Ruth Michaelson ihren Koffer aus dem Schrank hervorzerrt. Das Herz der 33-jährigen Journalistin rast. Sie wirft Laptop, ein T-Shirt, ein paar Hosen, ein paar Notizblöcke in ihren Koffer. Sie will nicht dasselbe Schicksal erleiden wie einige ihrer Kollegen: Auf unbestimmte Zeit in einem Gefängnis in Ägypten zu landen. Ohne Anwalt, ohne Prozess. Ein letzter Check, dann greift sie nach dem Koffer, atmet tief durch und tritt heraus vor ihre Tür.

Die Korrespondentin des britischen Guardian hat eine steile Karriere hingelegt. Nach ihrem Master in Investigativem Journalismus an der Columbia-Universität in New York landete die Britin für ein Projekt in Kairo - und blieb. Bereits mit 27 Jahren erklärte sie von dort in TV-Interviews die arabische Welt, schrieb über den Bau einer Mauer um Sharm-el-Sheik und offenbar gekaufte Stimmen bei Wahlen. Ihre kritischen Geschichten machten die Frau mit den kurzen braunen Haaren, dem selbstbewussten Auftritt und der klaren Sprache immer wieder zum Ziel von Diffamierungen.

Doch diesmal geht der ägyptische Staatsapparat weiter. Ruth Michaelson soll aus dem Land fliegen, aus dem sie in den vergangenen sechs Jahren berichtet, das ihre Heimat geworden ist. Es ist ein Artikel über das Coronavirus in Ägypten, der das Regime von Präsident Abdelfattah al-Sisi derart empört - und sie in Gefahr bringt, verhaftet zu werden.

Es beginnen drei Tage, die das Leben von Ruth Michaelson für immer verändern - und ein Lehrstück sind dafür, wie Ägypten die Pressefreiheit immer weiter einschränkt. Und dafür, wie autoritäre Staaten in der Corona-Krise gegen Berichte vorgehen, die den offiziellen Darstellungen zuwiderlaufen.

Montag, 16. März

Zwei Tage vor der überstürzten Flucht sitzt Michaelson in ihrem Büro, als um elf Uhr ihr Telefon klingelt. Es ist der Staatsinformationsdienst (SIS). Die Behörde untersteht dem Präsidenten. Sie ist für ausländische Medien zuständig, stellt Korrespondenten die Akkreditierung aus und überwacht zugleich deren Arbeit. Direkte Anrufe sind keine Seltenheit. Diesmal heißt es, sie solle am Nachmittag ins Pressezentrum kommen. Michaelson ist genervt. Wieder eines von diesen Treffen, das ihre Zeit verschwendet, denkt sie.

An diesem Tag ist ihr Artikel über die Corona-Krise im Land erschienen. Darin zitiert sie aus einer noch unveröffentlichten Studie von Forschern aus Toronto: Laut einer Modellrechnung könnten bis zu 19 310 Menschen in Ägypten an Covid-19 erkrankt sein. Die offizielle Zahl: drei.

Ägypten ist eines der gefährlichsten Länder für Journalisten

Ägyptens Regime betrachtet das als Angriff - steht doch der Vorwurf im Raum, dass die Regierung lügt. Präsident al-Sisi hat längst die wichtigsten Zeitungen und Fernsehsender mit Hilfe des Geheimdienstes auf Linie gebracht. Immer mehr Gesetze schränken die Pressefreiheit ein. Blockierte Websites, Gummiparagraphen, Inhaftierungen: Auch die Zivilbevölkerung leidet unter der immer strengeren Zensur.Im Ranking von Reporter ohne Grenzen Platz belegt Ägypten Platz 166 von 180, es ist mittlerweile eines der gefährlichsten Länder für Journalisten auf der Welt. Michaelson sagt: "Die Stimmung ist immer klaustrophobischer geworden."

Am Nachmittag nach dem Anruf holt ein Freund sie ab. Gemeinsam fahren sie zum Sitz des SIS. Es ist ein riesiger Betonbau, wahlweise eindrucksvoll oder bedrohlich. Mitarbeiter zitieren bisweilen Journalisten hierher, um ihnen die Grenzen aufzuzeigen, um ihnen klarzumachen, wer das Sagen hat.

Am Eingang trifft Michaelson Declan Walsh, den Korrespondenten der New York Times. Er hatte die selben Forschungsergebnisse getwittert. Weitere Kollegen sind aus Solidarität dabei. Die Gruppe wird in einen Raum gelotst, wo Mitarbeiter des SIS auf sie warten. Betont freundliches Händeschütteln, nur einer verzichtet darauf: Diaa Rashwan.

Er ist ein hochgewachsener Mann mit Schnauzer und rahmenloser Brille. Und einer undurchsichtigen Doppelfunktion: Neben dem SIS leitet er auch das Pressekonsortium, also die standesrechtliche Vertretung ägyptischer Journalisten. In dieser zweiten Funktion sei er da, sagt er. Michaelson glaubt ihm nicht.

Rashwan und seine Mitarbeiter setzen sich auf rustikale Holzstühle. Michaelson und Walsh werden gebeten, auf zwei kunstvoll verzierten Sitzen Platz zu nehmen. Es soll klar sein, wer sich hier rechtfertigen soll.

Die nächsten dreieinhalb Stunden wird Rashwan immer wieder laut. Michaelson habe Panik verbreitet. Sie hätte Wissenschaftler zitieren sollen, die mit der ägyptischen Regierung übereinstimmen. So sieht man das in Ägypten: Journalisten haben die Sicht der Regierung zu verbreiten. Alles andere grenzt schnell an Hochverrat.

Die Geschichte zurückziehen? Sie lehnt das ab

Der Guardian solle die Geschichte zurückziehen und sich entschuldigen, fordert Rashwan. Ansonsten werde es Konsequenzen geben. Michaelson antwortet, der Guardian ziehe nur falsche Geschichten zurück. Sie bietet Rashwan aber an, einen Artikel mit neuen Informationen zu veröffentlichen, falls er solche nachweisen könne.

Michaelson ist verblüfft: So direkten Druck auf eine Veröffentlichung hin hatte sie noch nie bekommen - obwohl sie schon Artikel veröffentlicht hatte, die sie für deutlich gefährlicher hielt. Über möglicherweise gekaufte Stimmen bei der Wahl von Machthaber el-Sisi. Über die Razzia in den Büroräumen von Mada Masr, dem letzten unabhängigen Medium. Über die laut der Menschenrechtsorganisation "Human Rights Watch" etwa 60 000 politischen Gefangenen im Land.

Nach dem Treffen ist sie ausgelaugt. Aber: Das Schlimmste scheint überstanden zu sein. Der Sturm zieht vorüber, endlich zurück zur Arbeit, denkt sie sich. Erschöpft fällt sie an dem Abend ins Bett. Da weiß sie noch nicht, dass sie sich täuscht.

Die harte Linie der Behörden mag auch mit ihrem Arbeitgeber zu tun haben. Sie beobachten ohnehin wichtige englischsprachige Medien wie die BBC, New York Times, CNN, Washington Post und den Guardian intensiver als andere ausländische Medien. Englisch verstehen schließlich auch viele Ägypter. Und die sollen keine Zweifel an der Linie der Regierung hegen. Nicht alle Details der letzten Tage von Ruth Michaelson in Kairo lassen sich überprüfen. Aber ihre Schilderungen stimmen mit den Erfahrungen anderer Journalisten aus dem Land überein.

Eine Kollegin hatte man vom Fleck weg rausgeschmissen

Bel Trew, die ehemalige Korrespondentin des Londoner Times etwa, wurde vor zwei Jahren aus einem Café eines Arbeiterviertels heraus festgenommen und noch am selben Tag in ein Flugzeug Richtung Heimat gesetzt. Sie hatte ein Interview in einem Stadtteil Kairos geführt, in dem sie wegen ihres abgelaufenen Presseausweises nicht mehr arbeiten durfte - auf den warten Korrespondenten regelmäßig sechs Monate und mehr, wie aus entsprechenden Kreisen zu hören ist.

Dienstag, 17. März

Ruth Michaelson bekommt von der Eskalation zunächst gar nichts mit. Am Tag nach ihrer Vorladung will sie sich gerade wieder an ihre Arbeit machen, als Kollegen von der DPA und BBC anrufen. Ob es stimme, dass man ihr die Akkreditierung entzogen habe? Michaelson stutzt, sie hatte nichts dergleichen gehört. Im Internet findet sie einen Tweet und einen nicht unterschriebenen Brief des SIS mit eben dieser Nachricht, den Tweet wird das SIS später löschen. Michaelson kommt das Ganze unglaubwürdig vor, vielleicht will sie es auch nicht wahrhaben. Sie versucht, weiterzuarbeiten.

12 Uhr Mittag, wieder vibriert ihr Handy. In der Whatsapp-Gruppe, die das SIS für ausländische Journalisten eingerichtet hat, poppt eine Pressemitteilung auf, die auf der Website des SIS bis heute zu lesen ist. Es ist ein Brief an Katharine Viner, die Chefredakteurin des Guardian. Darin heißt es, aus der "Wertschätzung gegenüber Ihrer geschätzten Zeitung heraus" wolle man sie über das berufliche Fehlverhalten von Michaelson informieren. Es habe wiederholt Berichte von Michaelson gegeben, die "der Wahrheit widersprechen".

Dann geht es um ihren Corona-Artikel. Dieser enthalte "irreführende Informationen" über die ägyptischen Infektionszahlen. Er beruhe auf "Spekulationen" und einer unveröffentlichten Studie eines "unbekannten kanadischen Arztes". Dessen Herangehensweise und Ergebnisse seien zudem von der WHO zurückgewiesen worden. Was so nicht stimmt: Tatsächlich hatte die WHO gesagt, dass sie die in der Studie verwendete Methodik nicht prüfen könne.

Die Veröffentlichung werde zu "enormen wirtschaftlichen, sozialen und psychologischen Konsequenzen" führen. Der Brief endet mit der Forderung nach einer Entschuldigung, droht ihr rechtliche Konsequenzen an, verbunden mit dem Hinweis, dass man Ruth Michaelson die Akkreditierung entziehe.

Ob das Leserbrief-Angebot diesmal fruchten würde?

Michaelson rutscht das Herz in die Hose. Sie wählt die Nummer ihres Chefs im 3500 Kilometer entfernten London. Der verfasst ein Schreiben, in dem er Diaa Rashwan anbietet, einen Leserbrief mit seiner Perspektive der Dinge abzudrucken. Eine Deeskalationsstrategie, die unter el-Sisis vor-Vorgänger Mubarak noch immer ganz gut funktioniert hatte.

Für den Abend wird sie ins Cairo Press Centre zitiert. Dort bekommt sie zwei Briefe: Der eine ist der bekannte an Guardian-Chefin Katharine Viner. Der andere ist kurz, für sie selbst und bestätigt den Widerruf ihrer Akkreditierung. Sie selbst überreicht bei dem Treffen das Angebot des Guardian für einen Leserbrief. Der Staatsapparat wird darauf nie eingehen.

Immerhin: Nachdem man ihr Visum geprüft hat, bestätigt man ihr, dass sie im Land bleiben dürfe. Sie denkt sich: Das wird schon alles. Die Behörden werden sich beruhigen, früher oder später würde sie ihre Akkreditierung schon wiederbekommen. Für sie ist es nur eine Frage der Zeit.

Mittwoch, 18. März

Am nächsten Vormittag sitzt sie in ihrem Büro und schaut die Pressekonferenz mit dem Regionaldirektor der WHO für Ägypten. Ihre Geschichte scheint etwas in Gang gesetzt zu haben: Zum ersten Mal hört sie öffentlich ausgesprochen, dass es nicht registrierte Corona-Fälle gebe. Zum ersten Mal wird auch die Zahl der bis dahin durchgeführten Covid-19 Tests genannt: 3015. Die Zahl der bestätigten Fälle liegt zu dem Zeitpunkt bei 196, in einem Land mit mehr als 100 Millionen Menschen. In Deutschland liegt die Zahl zu dem Zeitpunkt bei 2960. "Die glauben doch selber nicht, dass es so wenige sind", denkt sich Michaelson.

Am Nachmittag klingelt wieder ihr Handy: Sie soll zur Einwanderungsbehörde kommen. Warum? Die Behörden hatten ihr Visum doch erst am Vortag gesehen. Michaelson ist alarmiert. Aus den Erfahrungen anderer weiß sie, dass dies kein gutes Zeichen ist.

Verschiedene Szenarien spielen sich vor ihren Augen ab. Vielleicht würde man sie gleich zum Flughafen bringen, wie damals Bel Trew. Oder, noch schlimmer: Man würde sie so lange inhaftieren, bis man sie außer Landes bringen würde. Und das könnte dauern. Der Flughafen schließt am nächsten Tag zur Mittagszeit für alle kommerziellen Flüge, wegen Corona. Wie sollte sie dann ausreisen? Und: Wer schützt sie? Nur eines ist ihr klar: Zu diesem ominösen Treffen will sie nicht ohne Schutz hin.

Sie wählt die Nummer der britischen Botschaft. Man rät ihr, einen Anwalt mitzunehmen, schickt aber keinen Diplomaten. Dann wählt sie die Nummer der deutschen Botschaft. Denn Michaelson ist auch deutsche Staatsbürgerin. Die Deutschen sagen einen Satz, den sie so schnell nicht vergessen wird: "Wir glauben nicht, dass es für Sie sicher ist, an diesem Treffen teilzunehmen. Sie sind einem hohen Verhaftungsrisiko ausgesetzt und sollten das Land verlassen."

Verhaftungsrisiko? So schnell will Michaelson nicht aufgeben

Michaelson will nicht aufgeben. Sechs Jahre hatte sie hier gelebt und berichtet. Sie weiß, dass die Ausreise ein one-way-ticket wäre. So wie bei ihrer Kollegin Bell Trew, die nach ihrem Rauswurf nicht mal mehr ins Land durfte, um ihre Wohnung auszuräumen. Noch hat Michaelson keine offizielle Aufforderung erhalten, das Land zu verlassen. Noch hofft sie.

Am Nachmittag nimmt sich Michaelson einen Anwalt. Seine Einschätzung: Sie soll nicht in der Wohnung bleiben. Sie könnte von den Sicherheitskräften gestürmt werden. Michaelson beginnt, ihre Sachen in den Koffer zu werfen. Da klingelt ihr Handy wieder, diesmal ist es die britische Botschaft mit einer Nachricht der Sicherheitskräfte. Diese lautet: "Wir fordern Sie auf, das Land zu verlassen." Jetzt ist es klar: Sie muss hier weg.

Als sie vor ihre Tür tritt, steht dort eine Gruppe Sicherheitsmänner. Waren sie wegen ihr da? Wollte man sie einschüchtern? Oder waren sie wegen des Corona-Shutdowns da? Es ist eine ambivalente Situation. Sie hat Angst. Und marschiert geradewegs an den Männern vorbei, springt in das nächste Taxi und fährt zu einem Hotel nahe der britischen Botschaft.

Donnerstag, 19. März

Am nächsten Tag erfährt sie von der deutschen Botschaft, dass am Folgetag ein Flug von Kairo nach Düsseldorf geht - eine Luftbrücke für die gestrandete Touristen. Und für sie, die Deutsch-Britin, die nicht wie die 60 000 politischen Gefangenen im Land enden will.

Freitag, 20. März

Am Flughafen steht sie dann zwischen braungebrannten Deutschen. In ihrem Koffer die Materialien aus sechs Jahren Reporterleben: Laptop, Notizblöcke, Kamera. Als sie in das Flugzeug steigt, hämmert ihr Puls, rasen ihre Gedanken. "Es war surreal. Als ob ich eine merkwürdige Reise antreten würde", sagt sie.

"Wir würden mehr von Ihnen deportieren, wenn wir könnten", hatten die Sicherheitsbeamten zwei Jahre zuvor gesagt, als sie sich nach Bel Trews Rauswurf zusammen mit Kollegen Sicherheit verschaffen wollte. Darüber, dass sie ungestört würde arbeiten können, solange sie bestimmte rote Linien nicht übertritt. Doch diese sind längst verwischt. Um 18:20 Uhr hebt das Flugzeug nach Düsseldorf ab.

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