TV-Kritik: Anne Will:Das Wort ist der Tod der Revolution

In Kairo wird Geschichte geschrieben, bei Anne Will soll sie analysiert werden. Doch am Ende ist die ereignisarme Diskussion nur ein Symbol für die Unsicherheit des Westens im Umgang mit dem Umbruch in der arabischen Welt.

M. Baumstieger

Man könnte Mitleid mit Hamed Abdel-Samad haben: Vom Tahrir-Platz, auf dem Ägyptens Jugend gerade Geschichte schreibt, sind es mit dem Taxi 50 Minuten zum Kairoer Flughafen. Die Abfertigung dauert etwa eine Stunde, der Flug nach Berlin weitere vier Stunden. Und für die Fahrt von Schönefeld in Anne Wills Studio nach Adlershof braucht man weitere 15 Minuten: Im besten Fall war der in Deutschland lebende und von den Ereignissen elektrisiert in die Heimat geeilte Politologe also etwa sechs Stunden unterwegs. Und das, um mit ARD-Moderatorin Anne Will und den anderen Gästen eine Stunde über die Umwälzung am Nil zu diskutieren. In dieser Zeit kann während einer Revolution alles passieren. Bei Will im Studio passierte hingegen nichts, als das Thema "Tote in Kairo - endet die ägyptische Revolution im Chaos?" auf der Tagesordnung stand.

Anne Will - neues Talk-Format ab 16. September 2007, immer sonntags ab 21.45 Uhr

"Tote in Kairo - endet die ägyptische Revolution im Chaos?"  - fragt Anne Will am Sonntagabend die Gäste ihrer ARD-Talkshow.

(Foto: ARD/Jim Rakete)

Hamed Abdel-Samad hat den Weg trotzdem auf sich genommen, denn der Wahl-Münchner hat eine Mission: "In Kairo trifft das Zeitalter von Facebook und Twitter auf Pferde und Kamele", sagt Abdel-Samad und spielte damit auf die Ereignisse vom vergangenen Mittwoch an, als betrittene Mubarak-Anhänger die auf dem Tahrir-Platz demonstrierenden Regimegegner angriffen. Dann plädierte er: "Wir dürfen uns nicht länger auf die Seite der Kamele stellen!" Dass Deutschland und der Westen nach wie vor nicht in den Ruf nach einem Wechsel in dem größten Land der arabischen Welt einstimmen, kann Abdel-Samad nicht verstehen. Jürgen Chrobog auch nicht.

Der große, schlanke Herr im blauen Anzug zog jahrzehntelang als Top-Diplomat für die Bundesrepublik Fäden im Hintergrund. Ins Rampenlicht rückte er erst gegen Ende seiner Karriere, als er 2005 mit seiner Familie im Jemen entführt wurde. Jedem der nahöstlichen Despoten, deren Regime jetzt wanken, habe er im Auftrag seines Dienstherren schon die Hand geschüttelt, sagt Chrobog und kann sich dabei ein ironisches Lächeln nicht verkneifen. Für den auf Stabilität bedachten Westen seien die nahöstlichen Despoten nützliche Idioten gewesen, die in politisch unruhigen Zeiten Islamisten und Terroristen unter der Knute hielten, findet er. Dass sie nebenbei auch noch alle anderen Bürger unterdrückten, habe man halt hingenommen. Chrobog ist jetzt in Rente, müsste auf diplomatische Gepflogenheiten keine Rücksicht mehr nehmen und würde vom Auswärtigen Amt gerne einen Satz hören: "Mubarak muss weg, und das sofort."

Diesen Satz sagt aber weder Außenminister Guido Westerwelle noch Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die deutschen Politiker lavieren in der Ägypten-Frage genauso wie ihre Kollegen in den anderen Staaten des Westens. Und wenn Chrobog jetzt meint, die abwartenden Äußerungen etwa der EU-Außenministerin Catherine Ashton "seien an Banalität nicht zu überbieten", dann merkt man, dass er den Diplomaten in sich doch nicht mit dem Renteneintritt hat ablegen können. Chrobog ist mit einer Ägypterin verheiratet, und selbst, wenn es in ihm brodelt: Er bleibt ein Mann der gewählten Worte.

Viel schärfer und kontroverser wird es bei Anne Will an diesem Abend nicht. Und selbst, wenn am Tahrir-Platz in Kairo gerade nicht viel passiert: Jeder Live-Stream von dort wäre spannender gewesen, als der bei Will unternommene Versuch, die Geschichte zu analysieren, die gerade in der arabischen Welt geschrieben wird.

Die Farbklecks-Taktik

So saß etwa Egon Bahr bei Anne Will, sechs Jahre älter als Ägyptens greiser Despot Hosni Mubarak. Man hätte erwarten können, dass Bahr einiges zum Umgang mit autoritären Regimen zu sagen hätte, als Architekt der Ostverträge verhandelte er einst in Ostberlin und Moskau. Bahr hatte auch viel zu sagen, jedoch waren seine Sätze so lang, dass man am Ende oft schon vergessen hatte, was er wohl am Anfang geäußert haben könnte. Stark gekürzt meinte Bahr: Man dürfe den Ägyptern nun kein System aufzwingen, Selbstbestimmung sei wichtiger, wichtiger sogar, als dem Ruf nach Demokratie direkt zu folgen.

Zu spannenden Kontroversen führen solche allgemeinen Beiträge nicht, die Diskussion mäandert vor sich hin. Weder dramatische Streichersequenzen in den Einspielfilmen können künstlich Dramatik schaffen, noch der aus Kairo zugeschaltete ARD-Korrespondent Jörg Armbruster.

Um solch ereignisarmen Sendungen vorzubeugen, stehen Talkshow-Redakteuren zwei Joker zur Verfügung. Erstens: Man lädt einen rhetorisch versierten Vertreter einer Partei ein, die zwar nicht direkt involviert ist, aber starke Interessen im zu verhandelnden Sujet hat. Der wird dann die diplomatische Zurückhaltung schon ablegen, so hofft man, und ein paar unverblümte Sätze sprechen. Zweitens: die Farbklecks-Taktik. Ein Schriftsteller, Musiker oder sonst ein unter Querkopf-Verdacht stehender Künstler soll die Runde mit abseitigen, aber interessanten Theorien aufmischen.

Am Sonntag zog die Redaktion beide Joker, doch sie stachen nicht. Der Jazz-Musiker Andrej Hermlin konnte dank Ost-Vergangenheit und seinem Engagement für eine demokratische Reform in Kenia zwar noch irgendwie in Zusammenhang mit den Ereignissen in Kario gesetzt werden. Er steuerte aber nicht mehr bei, als die Weisheit, dass in Äypten nicht nur der Kopf des alten Systems ausgetauscht werden müsse, sondern das ganze System.

Und Melody Sucharewicz, die im Setting bei Anne Will als Agent provocateur vorgesehen war, zeigte nur, dass in ihr ein kleiner Chrobog steckt: Sucharewicz war einst Sonderbotschafterin Israels, nachdem sie einen von Shows wie Deutschland sucht den Superstar inspirierten diplomatischen Talentwettbewerb gewonnen hatte. Mit ihrem durch einige Anglizismen angereicherten Diplomatensprech schaffte es die in München geborene Sucharewicz, innerhalb eines Satzes die gesamte ägyptische Opposition zu neutralisieren. Sie betonte die existenzielle Sorge Israels vor einem zweiten 1979, erinnerte an die iranische Revolution, aus der das Teheraner Mullah-Regime hervorging. Gleichzeitig umarmte sie alle Kairoer Demonstranten verbal, eine Aussage war am Ende nicht zu erkennen.

Bevor die 60 Minuten Diskussionssendung ohne Diskussion abgelaufen waren, versuchte sich Egon Bahr noch an einer Erklärung des Internets. Dann erkundigte sich Anne Will in einer Schaltung zu den Kollegen der Tagesthemen nach neuesten Ereignissen in Kairo. Hamed Abdel-Samad konnte aufatmen: Auch in Ägypten war in den vergangenen sieben Stunden wenig passiert. Regime und Oppostition verhandeln, so der Stand aus der Nachrichtenredaktion, der Schwung der Straße wird in zähen Diskussionen erstickt. Es scheint so, dass sogar Revolutionen Phasen haben, die nicht wesentlich spannender sind als eine Stunde Anne Will.

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