Kontroverse um TV-Doku:Neues aus Saarbrooklyn

Saarbrücken - Eine Saarbahn hält an der Johanneskirche

Die Gegend um die Johanneskirche in Saarbrücken, einer der Schauplätze des Spiegel-TV-Beitrages.

(Foto: imago/Becker&Bredel)

Müll, Obdachlose, Junkies: Mit einem Fernsehbeitrag über Saarbrücken und die sozialen Probleme dort bringt "Spiegel TV" nicht nur die Oberbürgermeisterin gegen sich auf.

Von Oliver Klasen

Es muss irgendwann um die Jahrtausendwende gewesen sein, da kam unter jungen Menschen in Saarbrücken die Mode auf, ihre Stadt "Saarbrooklyn" zu nennen. Ein Wortspiel von Sprayern und Hip-Hoppern, klang cool, verlieh ein bisschen Street Credibility, war aber nicht so ernst gemeint. Seit zwei Wochen ist das Saarland in Aufruhr, weil in einem Film von Spiegel TV der Begriff "Saarbrooklyn" aufgegriffen - und ziemlich ernst genommen wurde.

In der 25-minütigen Doku sieht man einen Wohnblock im Stadtteil Folsterhöhe, wo hinter dem Haus Müll und tote Katzen liegen. Bewohner trauen sich nicht, Besuch herzubitten, weil es im Aufzug nach Urin stinkt. Man sieht Obdachlose an der Johanneskirche, Männer, die morgens um zehn Rotwein trinken, weil sie vom Bier nicht mehr besoffen werden. Man sieht eine Frau in einer Gartenlaube, die mit zwei Bekannten ein "lecker Bähnchen" zieht, wie sie das nennt. "Wenn ich nix gezo' hann, bin ich total zappelig, könnt' ich jetzt auch ned so ruhig do hucke", sagt sie, wobei in den Untertiteln, die wegen des saarländischen Dialekts eingeblendet sind, ein Fehler passiert ist. Das Wort "hucke", sitzen, wird mit gucken übersetzt.

Diese sprachliche Nachlässigkeit ist aber nicht das, was Saarbrückens Oberbürgermeisterin Charlotte Britz umtreibt. Sie spricht von "Halbwahrheiten" und von einer "einseitigen, völlig verzerrten Darstellung". Britz hat Programmbeschwerde eingereicht bei der zuständigen Landesmedienanstalt, ein ungewöhnlicher Schritt. Es ärgert sie, dass im Film so getan werde, als bestünde die Stadt nur aus Problembezirken. Von den neun Wohnblöcken im Stadtteil Folsterhöhe habe das Fernsehteam ausgerechnet den einzigen ausgewählt, der noch marode sei, weil die Sanierung des Sechzigerjahrebaus bis 2020 dauert. Und Britz moniert, dass die Autorin keinen Vertreter der Stadt mit den Vorwürfen konfrontiert hat. "Hier sind alle anerkannten journalistischen Grundsätze verletzt worden", sagt die Oberbürgermeisterin.

Sie ist nicht die Einzige, die sich aufregt. Wie sehr der Spiegel TV-Film das kleine Bundesland bewegt, zeigt sich schon daran, dass Saarbrücker Zeitung und Saarländischer Rundfunk, die beiden wichtigsten Medien im Saarland, seit der Ausstrahlung am 15. Juli gut zwei Dutzend Artikel und Beiträge dazu gebracht haben. Auch in den sozialen Netzwerken gibt es Häme für die Macher des Saarbrooklyn-Films.

Maria Gresz, Moderatorin und Produzentin von Spiegel TV, kann die Aufregung nicht nachvollziehen. "Wir haben schon mehrere Filme aus sozialen Brennpunkten in Deutschland gemacht. Mit der Schärfe, die Frau Britz gezeigt hat, hat bislang keiner reagiert", schreibt Gresz in einer Stellungnahme an die SZ. Im Film sei es darum gegangen, "die Schattenseiten der Stadt" zu zeigen und "real existierende Schicksale sichtbar zu machen, die ansonsten wenig Beachtung finden".

Darf man Drogensüchtigen Geld für Dreharbeiten zahlen?

Es ist ein altes Problem, das Journalisten oft haben, im Fernsehen noch mehr als in der Zeitung: Stets erzählt man einen Ausschnitt der Geschichte, nie die ganze Geschichte. Stets ist es eine Verknappung der Realität. Strittig zwischen Britz und Gresz ist, wann die Verknappung aufhört und Verfälschung beginnt. Spiegel TV argumentiert, der Film habe kein Ausgewogenheitsproblem. Zumal auch "Lichtblicke zivilgesellschaftlichen Engagements" gezeigt worden seien, etwa ein Kinderhaus.

Allerdings gibt es weitere Vorwürfe gegen das TV-Team: Der Leiter des Saarbrücker Drogenhilfezentrums behauptet unter Berufung auf einen im Film gezeigten Süchtigen, dass dieser 20 Euro erhalten habe, um sich vor der Kamera einen Schuss zu setzen. Das weist Spiegel TV scharf zurück. Lediglich die drei Personen aus der Gartenlaube hätten für ihre Mitwirkung an den etwa zweistündigen Dreharbeiten je eine Aufwandsentschädigung von 50 Euro erhalten. An alle anderen Gesprächspartner sei kein Geld gezahlt worden. Darf man Drogensüchtigen Geld für Dreharbeiten zahlen? Und gibt es eine Verantwortung, zugedröhnte Protagonisten im Zweifel vor sich selbst zu schützen? "Ja, die gibt es", antwortet Gresz und beteuert, dass das Team einige Szenen deshalb nicht im Film gezeigt habe.

Kontroverse um TV-Doku: Gibt sich überrascht: Maria Gresz, Moderatorin und Produzentin.

Gibt sich überrascht: Maria Gresz, Moderatorin und Produzentin.

(Foto: Spiegel TV)

Charlotte Britz gibt ihr Amt im Herbst ab, sie hat also wenig Grund, sich zu profilieren. Vielleicht reagiert sie so vehement, weil sie sich persönlich angegriffen sieht. Sie war lange Sozialarbeiterin und Sozialdezernentin, bevor sie an die Spitze des Rathauses rückte. Von ihrem Büro aus kann sie die Johanneskirche sehen, wo die Alkoholiker sitzen. "Von meiner Biografie her habe ich Probleme, wenn man Menschen, die erkennbar suchtkrank sind, in dieser Form exponiert. Das verletzt meines Erachtens die Menschenwürde", sagt Britz.

Einige Menschen verweisen dieser Tage im Netz auf eine Doku, die ein junger Filmemacher 2018 zusammen mit einer Jugendkultur-Werkstatt über die Folsterhöhe gemacht hat: Jugendliche, die Street Art machen, schöne Bilder, viele Positivbeispiele, eine Art Gegen-Spiegel TV. Und auf einer Facebookseite bieten sie jetzt Anstecker an, mit denen man seine Verbundenheit mit der Stadt zur Schau tragen kann. Die Betreiber appellieren an den Trotz der Saarländer, der traditionell stark ausgeprägt ist. "Lasst uns stolz sein auf unser Saarbrooklyn! Gradselääds!" Auf Hochdeutsch heißt das: Jetzt erst recht.

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