Netflix:Das Ende der Freundschaft

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Die Stars aus "Friends" (v.l.): Matthew Perry, Matt LeBlanc, David Schwimmer, Courteney Cox Arquette, Lisa Kudrow und Jennifer Aniston. (Foto: Reuters/Jon Ragel)

Erstmals sinkt die Zahl der US-Abonnenten. Auch, weil Inhalte bei Konkurrenten landen.

Von Jürgen Schmieder

Es hat auch andere interessante Aspekte gegeben bei der Präsentation des neuen Streamingportals HBO Max, das der Pay-TV-Sender HBO 2020 anbieten möchte. Den Preis zum Beispiel, mit 16 bis 17 Dollar im Monat, der einen oder zwei Dollar über den Abos der Konkurrenz liegt. Oder die angekündigten Eigenproduktionen, eine Superheldenserie etwa oder eine Neuauflage der Teenagerserie Gossip Girl. Der entscheidende Aspekt der Präsentation war allerdings: HBO Max hat sich die US-Rechte an der Kultserie Friends gesichert. Und die waren bisher in der Hand von Netflix.

Diese Nachricht ist in den USA aufgenommen worden wie der Transfer eines Sportstars, wobei Friends, auf Profisport übertragen, die Karriere längst beendet hat: Es gibt seit 15 Jahren keine neuen Folgen der Sitcom über sechs New Yorker mehr. Netflix bezahlt in diesem Jahr trotzdem 80 Millionen Dollar für die Rechte auf dem US-Markt. Und dann ist da noch die Nachricht, dass eine andere abgesetzte Serie mit stolzem Jahresgehalt abwandern wird: NBC Universal (NBCU) sicherte sich von 2021 an für 100 Millionen Dollar pro Jahr die Streamingrechte an The Office.

Natürlich wird Netflix für eigene Produktionen wie House of Cards, Stranger Things und The Crown mit Preisen überhäuft und als Revolutionär der Unterhaltungsbranche bewundert. Allerdings hat das Marktforschungsinstitut Nielsen kürzlich herausgefunden, dass die fünf erfolgreichsten Serien des Anbieters im vergangenen Jahr Zukäufe waren: The Office, Friends, Grey's Anatomy, Navy CIS und Criminal Minds. Demnach verbringen die Abonnenten zwei Drittel ihrer Zeit mit Inhalten, die Netflix nicht selbst produziert hat.

Führt das langfristig zu Problemen für das Unternehmen, womöglich zu existenziellen? In einem Artikel in der Finanz-Zeitschrift Forbes mit dem Titel "Der schlimmste Albtraum für Netflix wird gerade wahr" stellte Autor Stephen McBride, Analyst beim Portal Riskhedge Report, eine düstere Prognose auf: einen Kursverfall der Aktie um 40 Prozent in den kommenden beiden Jahren - im besten Fall.

Der weltweite Zuwachs des Anbieters blieb weit hinter den Erwartungen zurück

Wie sehr der Rückgang seinen Lauf nimmt, zeigen am Mittwoch veröffentlichte Quartalszahlen: Die Finanzen sahen zwar ordentlich aus, der Umsatz lag mit 4,92 Milliarden Dollar im Bereich der Erwartungen. Aber der Zuwachs der weltweiten Abonnenten (2,83 Millionen) lag deutlich unter den Prognosen (4,81 Millionen). Und auf dem US-Markt ist die Abonnentenzahl erstmals in der Firmengeschichte zurückgegangen, um 126 000. Die Aktie, die in diesem Jahr bislang um 37 Prozent an Wert zugelegt hat, fiel im nachbörslichen Handel um zwölf Prozent. "In den kommenden zwölf Monaten werden Disney, Apple, WarnerMedia, NBCU und andere Firmen Streaming-Unterhaltung anbieten, so wie es Hulu, Amazon, BBC, Hotstar, Youtube, Netflix und viele andere bereits tun", heißt es dazu im Brief an die Investoren. "Das Werben um die Freizeit der Leute wird von allen Unternehmen hart geführt werden."

Das klingt wieder nach Profisport und der Prognose, dass der Titelkampf spannend werden dürfte. Das Problem für Netflix: Viele Konkurrenten verfügen dabei über Waffen, die das Unternehmen gerade verloren hat oder bald verlieren dürfte.

Denn das Programm funktioniert nach demselben Prinzip wie Disney-Freizeitparks. Dort laufen nicht nur die Klassiker Micky Maus, Donald Duck und Goofy herum, sondern auch: die Avengers-Superhelden, die Prinzessinnen aus Frozen, die Stormtrooper aus Star Wars, die Piraten aus Fluch der Karibik, die Fee aus Maleficent. Der Tresor an eigenen Inhalten füllt sich ständig. Die finanziell jeweils erfolgreichsten drei Kinofilme der vergangenen drei Jahre sind allesamt von Disney. Die Filme aus 2017 und 2018 sind derzeit bei Netflix zu sehen, das dafür 150 Millionen Dollar im Jahr bezahlt. Vom kommenden Jahr an werden sie dort allerdings fehlen. Weil sie dann bei Disneys Portal landen.

HBO, über den Verkauf der Mutterfirma Warner Media nun Teil des Telekommunikationskonzerns AT & T, hat neben dem Wechsel von Friends verkündet, auf dem Portal nicht nur aktuelle Hits wie zum Beispiel Big Little Lies und Game of Thrones verfügbar zu machen, sondern auch Klassiker wie The Sopranos oder Sex and the City. Hulu, seit dem Verkauf von 21st Century Fox Teil des Disney-Konzerns, bekommt Zugang zu Inhalten des Senders FX wie Atlanta und Fargo. Amazon Prime kann aus dem Füllhorn des Konzerns Amazon Milliarden-Dollar-Projekte wie eine Herr der Ringe-Serie finanzieren. Und Apple gibt laut Berichten bis zu 15 Millionen pro Folge für die Jason-Momoa-Serie See aus.

Weil Inhalte wegfallen, werde der Streaminganbieter höhere Risiken eingehen müssen, heißt es

Im Netflix-Schreiben an die Investoren heißt es, dass der Abgang von Serien dazu führen würde, dass man mehr Geld in eigene Inhalte investieren könne. Das klingt allerdings wie ein Fußballverein, der nach dem Wechsel von Stars behauptet, auf junge Talente setzen zu wollen. In diesem Jahr wird das Unternehmen etwa 15 Milliarden Dollar für Inhalte ausgeben und 2,9 Milliarden für Marketing. Der Verlust dürfte damit bei mehr als drei Milliarden liegen. "Netflix wird in Ermangelung eines eigenen Inhalte-Tresors höhere Risiken eingehen müssen", sagt Michael Nathanson von der Analysefirma Moffett Nathanson: "Der Verlust externer Inhalte dürfte jedoch nicht so schmerzen wie befürchtet."

The Office ist zwar die meistgesehene Serie bei Netflix 2018, die Sehdauer (52 Millionen Minuten) macht jedoch nur 0,86 Prozent der Streamingzeit aus. Natürlich braucht es Alleinstellungsmerkmale wie die gefeierten Serien Stranger Things und Orange is the new Black, es braucht aber auch eine Masse an Inhalten, damit möglichst viele Leute ihre Abos behalten. "Wir haben das bei anderen Shows, die wir nicht mehr angeboten haben, ebenfalls beobachtet", sagt Netflix-Chef Reed Hastings, der einst das Bedürfnis der Zuschauer nach Schlaf als größten Konkurrenten ausgemacht hat: "Die Leute haben dann eben andere Serien bei uns geguckt."

Der Machtkampf der Streamingportale könnte am Ende also entschieden werden wie Mannschaftssport: Den Titel holt nicht unbedingt der Verein mit den tollsten Einzelspielern, sondern der mit dem besten Ensemble. Wer das in fünf Jahren sein wird, ist derzeit so schwer zu beantworten wie die Frage nach dem Champions-League-Sieger im Jahr 2024.

© SZ vom 19.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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