Heimatfilm "Nachspielzeit" auf Arte:Das Leben ist härter als 90 Minuten

Nachspielzeit

Neukölln ist ein Ort wie ein Klischee, Leute mit Migrationshintergrund, Autonome, Rechtsradikale treffen aufeinander.

(Foto: SWR/Lichtblick Media GmbH)

In "Nachspielzeit" geht Arte der Frage nach, wem die Stadt gehört. Dabei zerbröseln ideologische Feindbilder.

Von Ralf Wiegand

Demonstranten ziehen durch die Stadt, genauer durch Berlin, noch genauer durch den Berliner Bezirk Neukölln. "Überall ist Taksim", skandieren sie. Sie brüllen: "Wem gehört die Stadt?" Cem steht in der Tür des Lokals, das sein Vater hier betreibt, und sieht auf den vorbeiziehenden Demonstrationszug. Cem ist ein junger Türke, ein junger, linker Türke, ein Türke, der im Bundesfreiwilligendienst alte Menschen betreut und der - wenn er nicht in Berlin wäre - in Istanbul auf dem Taksim-Platz stünde und um seine Stadt kämpfen würde.

Cems Stadt ist aber Berlin, Neukölln sein Kiez, und so kämpft er eben hier. Zündet nachts Baustellen an, vor denen große Plakate für die gerade entstehenden Luxuswohnungen werben oder sabotiert als Teil eines Flashmobs Massenbesichtigungen von Wohnungen: Junge Aktivisten verabreden sich per Internet vor einer zu besichtigenden Wohnung, getarnt als Interessenten, und wenn der Makler sie herein gebeten hat, werfen sie Konfetti, rauchen Zigaretten, drehen den Gettoblaster auf volle Lautstärke und tanzen um den Makler herum, bis der kapituliert. Hausbesetzung 3.0.

Dieses Neukölln ist ein Ort wie ein Klischee. Die Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund ist dort höher als sonst irgendwo in der Hauptstadt, die Arbeitslosenquote auch. Er gilt als Rückzugsort linker Autonomer einerseits und als Sumpf dumpfer Rechtsradikaler andererseits.

Die Mieten sind günstig oder gerade im Begriff, günstig gewesen zu sein, denn die schnell wachsende Stadt sondert ihren Gentrifizierungsschleim überall ab, selbst in den Stadtteilen, in die sich das Establishment bisher nur mit Wasserwerfern getraut hat. Jetzt wollen alle hier wohnen.

Cem links, Roman rechts

Neukölln ist damit die perfekte Kulisse für das, was Arte einen "modernen Heimatfilm" nennt. Nachspielzeit (Buch und Regie: Andreas Pieper) heißt das Stück, das dem jungen Türken Cem den jungen Deutschen Roman entgegenstellt. Cem links, Roman rechts. Roman deutsch, Cem nicht. Beide spielen Fußball, daher der Titel. Doch das Leben ist härter als 90 Minuten.

Roman glaubt, er müsse aus seiner Wohnung raus, weil die auf dem Amt ihm die Kohle streichen werden, um sie "den Kanaken in den Arsch zu schieben". Seinen Großvater wiederum, der im Altenheim lebt und findet, dass in der DDR alles besser war, schreit er an: "Wer sich nicht wehrt, endet wie du!"

Mit einem Blick aus Wut und Angst

Er ähnelt da sehr dem Türken Cem, der kaum ertragen kann, wie sein Vater vor den steigenden Mieten für sein Lokal kapituliert hat. "Ich wehre mich wenigstens", hält er ihm vor, als die Sache mit den Bränden auffliegt.

Cem und Roman kämpfen auf verschiedenen Seiten darum, wem die Stadt gehört. Um ihre Heimat. Sie merken nur nicht, dass sie denselben Feind haben und richten ihren Hass jeweils auf die politische Ideologie des anderen, und nicht auf das grundlegende soziale Problem. Dabei geht es irgendwann um Leben und Tod.

Der Film verlangt einiges, er taucht tief in das Milieu einer Generation, die schon ums Überleben kämpft, bevor sie überhaupt einmal richtig leben durfte. Das ist deprimierend. Der in allen Belangen wunderbare Frederick Lau spielt Roman, einen typischen Verlierer, Sohn eines versoffenen, resignierten Vaters, leicht verführbar, leicht entflammbar, mit einem Blick aus Wut und Angst, wie ihn keiner besser drauf hat als eben Frederick Lau.

Die anderen Rollen sind ebenso überzeugend besetzt, Cem (Mehmet Atesci) und seine neue Liebe Astrid (Friederike Becht) sind ein Traumpaar ohne jeden Kitsch; die Szenen aus dem Altenheim wirken wie eine Dokumentation des traurigen Pflegealltags.

Die dunkelgraue Grundtönung macht den Film schwer, dazu hat Autor Pieper seine Figuren randvoll geladen. Jede für sich allein kann die Frage nach dem Sinn des Lebens stellen. Astrid zum Beispiel, Altenpflegerin wie Cem, hatte mal Krebs, Roman, die rechte Dumpfbacke, eine Karriere als hoffnungsvoller Fußballer vor sich, zerstört durch eine Knieverletzung.

Dann ist da noch der Immobilien-Hai Calli, Lächeln im Gesicht, Baseballschläger im Kofferraum. Und Cem wiederum pflegt im Heim Romans Opa, einen etwas zu hellwachen Marxisten im Rollstuhl.

Aber der Film hält das aus. Und er endet, wie gute Heimatfilme enden.

Nachspielzeit, Arte, Freitag, 20.15 Uhr

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