TV-Krimis:Der tägliche Tod

Tatort: Friss oder stirb

Das unangefochtene Flaggschiff des deutschen Erzählfernsehens ist seit Langem eine Krimi-Reihe: der "Tatort".

(Foto: ARD Degeto/ORF/Daniel Winkler)
  • Die Zahl der TV-Morde im deutschen Fernsehen übersteigt die der realen in Deutschland um ein Vielfaches.
  • In seiner Darstellung der Gesellschaft richtet sich der Blick eines Ermittlers im Krimi und mit ihm der des Zuschauers auf verborgene Abgründe.
  • Das wirkt auf die Gesellschaft zurück: Wenn im Fernsehen alle Welt dunkler Absichten verdächtig ist und Gewalt an der Tagesordnung zu sein scheint, werden am Ende die Fremden als besondere Bedrohung wahrgenommen.

Ein Gastbeitrag von Frank Zeller

Die Tote hinter den Dünen, der Tote im Watt, Tod am Nachmittag oder am Abend. Kein Zweifel, wir sind beim ZDF. Nach einer Rechnung des Journalisten Glenn Riedmeier ereigneten sich im Jahr 2015 allein im Programm von ZDF und ZDFneo mehr als viereinhalbtausend Morde, während die langweilige Wirklichkeit nicht mal ein Zehntel davon aufweisen konnte: Weniger als dreihundert tatsächliche Mordfälle gab es in ganz Deutschland. Aber auf Realität kommt es auch gar nicht an. Mordermittlungen sind hier nur eine Erzählkonvention, etwa so wie die Existenz böser Feen im Märchen. Im Kampf um hohe Einschaltquoten, die sie aus unerfindlichen Gründen für ihre Existenzberechtigung halten, setzen öffentliche Sender unablässig auf die Spannungsdramaturgie der Krimiformate. Auch in der ARD wird mit ähnlichem Fleiß gewaltsam gestorben. Das unangefochtene Flaggschiff des deutschen Erzählfernsehens ist seit Langem der Tatort. Hier als Ermittler zu dienen, gilt für deutsche Schauspieler als Ritterschlag.

Was sagt das eigentlich aus über eine Gesellschaft? Siegfried Kracauer, einer der großen Intellektuellen der Weimarer Republik, analysierte in seiner berühmten Studie "Von Caligari zu Hitler" retrospektiv die deutsche Filmlandschaft zwischen den Weltkriegen. Kino war das Massenmedium der Weimarer Zeit, mit ähnlich breiter Wirkung wie aktuell das Fernsehen. Kracauer interessierte sich für die psychologischen Strömungen innerhalb der deutschen Gesellschaft, die sich in den Filmen der Zeit spiegelten und die das böse Ende bereits vorausahnen ließen. Das Cabinet des Dr. Caligari steht für den Anfang dieser künstlerisch herausragenden Epoche des deutschen Films, ein Werk, das die Tyrannei kritisiert, obwohl es gleichzeitig von ihr als Thema besessen zu sein scheint. Bis zur Machtergreifung der Nazis folgten etwa 15 Jahre, in denen sich das deutsche Kino beinahe obsessiv mit ständig wiederkehrenden Motiven beschäftigte.

Kracauer stellte fest, dass sich vor allem die neu entstehende Mittelklasse in einem Dilemma befand. Ihre Seele wurde "zwischen Tyrannei und Chaos hin- und hergezerrt", schreibt er. Das Bürgertum, vom preußischen Untertanenstaat geprägt, fürchtete zwar die Wiederkehr der Schrecken, in die der Wilhelminismus geführt hatte. Doch man konnte sich keine Alternative als den Ausbruch des Chaos vorstellen. Auch klammerte man sich an Privilegien und sperrte sich gegen gesellschaftliche Umwälzungen. Als erzählerischer Ausweg fand sich einerseits etwa die infantile Verklärung des Alten Fritz als "guten" Herrscher in einer langen Reihe von Fridericus-Filmen. Auf der anderen Seite stand die düstere Faszination für wahngetriebene, genialische Herrenmenschen wie Dr. Caligari oder Nosferatu. Das Leben einfacher Menschen dagegen wurde stets vom übermächtigen Schicksal gesteuert, am Ende stand tragisches Scheitern. Kracauer sah in alldem ein Zeichen für eine Unreife der deutschen Charakterentwicklung.

Lässt sich die gegenwärtige Fixierung auf das Krimigenre und seine Mordermittlungen ähnlich analysieren, wie Kracauer dies für seine Epoche versucht hat?

Zwar kann niemand ernsthaft behaupten, dass die Gewaltkriminalität in Deutschland besorgniserregend zunimmt. Eher das Gegenteil trifft zu. Was offensichtlich ansteigt, sind die Ängste, Opfer von Verbrechen zu werden, und sie scheinen Grund genug zu sein, entweder die AfD zu wählen oder zumindest Restriktionen gegen Flüchtlinge und Migranten zu verlangen. Woher kommen diese Ängste? Reale Wahrnehmungen kommen als Auslöser eher nicht infrage. Haben die Leute also vielleicht zu viel ferngesehen?

Von den Redaktionen wird gern behauptet, der Krimi eigne sich besonders gut, um gesellschaftliche Realität abzubilden. "In einen Krimi können Sie alles verpacken." Aber stimmt das wirklich? Welches Bild der Wirklichkeit entsteht hier? Etwas vereinfacht gesagt, hat jedes Filmgenre sein eigenes Generalthema. Der Horrorfilm konfrontiert seine Zuschauer mit archaischen Urängsten. Beim Western geht es um die Härten des Existenzkampfes. Bei der romantischen Komödie wird, egal wie der Plot läuft, der Glaube an die Liebe hochgehalten. Und so weiter. Worum geht es dem Krimi? In seinem Zentrum stehen zweifellos Schuld und Sühne. Ja, es geht um das Böse im Menschen.

Der Blick eines Ermittlers und mit ihm der des Zuschauers richtet sich auf verborgene Abgründe. Er sucht in jedem Gegenüber dessen düsteres Geheimnis. Und findet es nicht nur beim Täter, denn ein guter Krimiplot muss auch falsche Fährten legen und plausibel machen. Je mehr zwielichtigen Subjekten die Kommissare begegnen, umso besser für die Spannung. Und je mehr Ängste beim Publikum bespielt werden, ebenso. Das ist in Wahrheit ein inhaltlich recht enger Korridor mit der zwingenden Tendenz, die Welt als verkommen und bedrohlich darzustellen.

Natürlich ist nichts dagegen einzuwenden, dass Filme die düsteren Seiten einer Gesellschaft erforschen, ganz im Gegenteil. Doch die Masse deutscher TV-Krimis hat sich längst zu einem schematisch produzierten Mainstream entwickelt. Anstatt von den Schattenseiten des Lebens zu erzählen, ist die vulgäre Tendenz entstanden, überall nur das Verderbte zu entdecken. Die Welt der Tatorte, der Sokos, Polizeirufe, der Teams für Zwei, der Rentnercops und wie sie alle heißen ist ein gewohnheitsgesteuertes Universum herbeifantasierter, böser Machenschaften, voll von Pessimismus und Aggression. Charme, Großzügigkeit und Offenheit, Spaß an der menschlichen Diversität oder sogar Humor haben hier wenig Platz.

Zwar tauchen die Kommissare gern leger gekleidet auf und machen auch mal launige Sprüche. Sie wirken nüchtern, sogar irgendwie aufklärerisch. Schließlich müssen sie ja Fälle "aufklären". Sie bringen dabei sogar Empathie auf. Aber das ändert nichts daran: Die Helden, mit denen sich der Zuschauer identifiziert, sind allesamt Vertreter der Staatsgewalt. Normale Menschen begegnen ihnen als Antagonisten, die stets verdächtig erscheinen. Zeigt sich hier nicht wieder die altbekannte deutsche Sehnsucht nach Unterordnung unter eine Autorität? Wer sich dem freien Leben nicht gewachsen fühlt, sucht nach Feindbildern und nach Autoritäten. Als Ventil dient das narrative Muster, das die Welt als Dualität von Verbrechen und der ordnenden Hand des Gesetzes zeichnet. Um von sich selbst zu erzählen, brauchen die Deutschen offensichtlich eine höhere Instanz, die alles Leben wie auf dem Seziertisch der Pathologie betrachtet.

Am Kino der Weimarer Zeit wurde vor allem seine prophetische Gabe hervorgehoben. Der Schatten Hitlers sei in Figuren wie Caligari, Nosferatu oder Dr. Mabuse erkennbar gewesen, meint Kracauer. Aber hatte nicht das Kino als damals führendes Massenmedium selbst Anteil an der unheilvollen Entwicklung? Man kann diese Frage stellen, ohne die unbestrittenen künstlerischen Glanzleistungen in Zweifel zu ziehen. Wirkten nicht das ewige Anklingen der Schicksalsmelodie, die ständigen Untergangsfantasien als self-fulfilling prophecy? Als Brandbeschleuniger, der die Flucht in den patriarchalischen Führerstaat begünstigte?

Wenn dem so war, müssen wir fragen, ob nicht Ähnliches gilt für die gegenwärtige Krimiflut mit ihrer Obsession von Mord und Bedrohung durch Gewalt. Natürlich liegt es Drehbuchautorinnen und -autoren fern, Misstrauen gegen Fremde zu schüren. Aber es liegt nun mal auf der Hand, dass in einer Atmosphäre, in der alle Welt dunkler Absichten verdächtig ist und Gewalt an der Tagesordnung zu sein scheint, am Ende die Fremden als besondere Bedrohung wahrgenommen werden. Man kennt sie nicht, sie benutzen unverständliche Sprachen, ihre Kultur ist uns nicht vertraut. Lauter Gründe, irritiert zu sein, wenn einem das Grundvertrauen in andere Menschen vor dem Fernseher verloren gegangen ist.

Sollten wir also Kracauers Studie "Von Caligari zu Hitler" einen zweiten Teil anfügen mit dem Titel "Vom Tatort zur AfD?" Vieles spricht dafür. Die Fernsehanstalten könnten den Einfluss, den sie auf das Bewusstsein der Menschen haben, für etwas Besseres nutzen. Für mehr Aufklärung, die auf Englisch "enlightenment" heißt. Das hat mit Licht zu tun und auch mit Leichtigkeit, nicht mit ewigem Kult um die Düsternis.

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