Süddeutsche Zeitung

Soziale Medien:Der Siegeszug der Twinfluencer

Brooklyn & Bailey, Lisa & Lena und die Lochis - eins ist klar: Für den Erfolg im Internet ist ein Zwilling von großem Nutzen. Das deutete sich bereits Ende der achtziger Jahre an.

Von Jan Stremmel

Die erste Frage traf gleich voll ins Schwarze. Auf der "VidCon" in Melbourne, der größten Youtube-Messe der Welt, saßen kürzlich zwei Stargäste auf der Bühne. Veronica und Vanessa Merrell, Millionen Teenagern bekannt als "Merrell Twins". Die Moderatorin startete das Interview folgendermaßen: "Habe ich die Gelegenheit verpasst, als Influencer richtig durchzustarten, weil ich kein Zwilling bin?"

Die Frage war nur ein halber Witz. Es scheint, als gäbe es zur Zeit keine bessere Voraussetzung, um weltweit im Netz berühmt zu werden, als mit einem Doppelgänger geboren zu sein.

Wenn in den vergangenen Jahren auf Instagram, Youtube oder Tiktok ein neues Profil innerhalb kurzer Zeit Millionen Fans generiert hat, standen sehr häufig Zwillinge dahinter. Die Merrell Twins aus Missouri haben fünf Millionen Follower allein auf Youtube. Die Dobre Twins, zwei schlaksige 20-Jährige aus Maryland, haben es in vier Jahren auf 18 Millionen Follower gebracht, die Dolan Twins, Typ Quarterback, in fünf Jahren auf zehn Millionen. Es gibt außerdem die Rybka Twins, die Caci Twins, die Martinez Twins, es gibt Niki & Gabi, Brooklyn & Bailey - und natürlich die Deutschen Roman und Heiko Lochmann, bekannt als "Lochis", sowie Lisa und Lena, die beiden 17-Jährigen aus Stuttgart, die unglaubliche 30 Millionen Follower auf Tiktok hatten, bis sie dieses Jahr komplett zu Youtube wechselten.

Zwillinge sind auf den sozialen Plattformen derart präsent und erfolgreich, dass sich der Begriff "Twinfluencer" etabliert hat. Auf den Branchenmessen gab es in diesem Jahr allenthalben Podiumsdiskussionen zum Thema, mit Titeln wie "Super Sibling Panel" oder "Seeing Double". Aber was erklärt ihren unheimlichen Erfolg?

Praktisch so ein Geschäftspartner, der im selben Kinderzimmer wohnt

Chris Kastenholz ist Gründer der deutschen Influencer-Agentur Pulse. Er glaubt, dass es zunächst daran liegt, dass Zwillinge "herausstechen aus der Flut des Contents". Die extrem kurze Aufmerksamkeitsspanne der Nutzer komme automatisch solchen Profilen zugute, die auf den ersten Blick etwas Besonderes böten: Oh, die hat einen Doppelgänger - abonnieren!

Das Herausstechen ist aber nicht alles. Auch die Algorithmen spielen Zwillingen in die Karten. Besonders auf Youtube, Tiktok und in Instagram-Stories, wo Bewegtbilder laufen, seien spontane Videos beliebt, sagt Kastenholz. "So was lässt sich um einiges leichter machen, wenn man zu zweit ist." Das leuchtet ein: Während einzelne Influencer ihre Monologe erst mit Schnitt- und Spezialeffekten unterhaltsam machen müssen, haben Zwillinge immer einen Anspielpartner vor der Kamera.

Dazu kommt die praktische Seite. Um ein siebenstelliges Publikum aufzubauen, braucht es enorm viel Zeit und Arbeit. Die meisten erfolgreichen "Twinfluencer" posten über Jahre mindestens ein aufwendig produziertes Video pro Woche - plus tägliche Fotos auf Instagram. Alleine lässt sich das kaum schaffen, wenn man nebenbei in die Schule muss. Wo andere ihre Freunde oder Eltern zur Mitarbeit verpflichten müssen, verfügen Zwillings-Influencer dagegen automatisch über mindestens einen motivierten Mitarbeiter. Und der wohnt oft im selben Kinderzimmer. Zwillinge seien so gesehen eine Art "Super-Influencer", schreibt das US-Magazin Atlantic in einem Artikel mit der Überschrift: "Twinfluencer übernehmen gerade das Internet".

Und damit wären wir bei der emotionalen Erklärung. Zwillinge beschäftigen die Menschen schon immer. In der griechischen Antike glaubte man, sie kämen durch die Vaterschaft eines Gottes zustande. In afrikanischen Kulturen vermutete man böse Geister am Werk; Zwillinge wurden oft ausgestoßen. Seit Erich Kästners "doppeltem Lottchen" von 1949 aber haben sie im Westen eine neue Konnotation: Zwillinge als aufgeweckte Spaßvögel, die ihr gleiches Aussehen nutzen, um Streiche zu spielen (oder ihre getrennten Eltern wieder miteinander zu verkuppeln).

So gesehen wären Luise und Lotte aus Kästners Roman die perfekten Protagonisten für die Sehgewohnheiten heutiger Youtube-Nutzer. Kaum ein Genre ist dort so beliebt wie die "Challenge" oder der "Prank": Einen Tag mit dem Zwilling Handys tauschen. Einen Tag als der eigene Bruder in die Schule gehen. Oder eine Friseurin zur Verzweiflung bringen, indem man immer wieder heimlich Stühle tauscht. Mit diesem Streich traten Lisa und Lena vergangenes Jahr bei "Verstehen Sie Spaß?" auf.

Ashley und Mary-Kate Olsen waren die ersten, die aus der Sache Kapital schlugen

Der Gedanke, einen Doppelgänger zu haben, scheint Menschen zu elektrisieren, sagt einer der Merrell-Zwillinge auf der Bühne in Melbourne. So gehört zu jedem großen Twin-Account auch immer die Beantwortung von Fragen, die jeder Zwilling ständig hört: Wer von euch ist älter? Woran unterscheiden euch eure Eltern? Könnt ihr die Gedanken des anderen lesen?

Dass man diese Faszination zu Ruhm und Geld machen kann, haben zuerst Ashley und Mary-Kate Olsen gezeigt. In den späten Achtzigern wurden die Amerikanerinnen als TV-Kinderstars berühmt. Acht Jahre lang spielten sie die Rolle der Michelle Tanner in der Sitcom "Full House". Und zwar immer abwechselnd, das doppelte Lottchen Hollywoods. Bald gab es Malbücher und Spielzeug mit den "Olsen Twins". Heute, mit Mitte 30, gehören sie mit einem geschätzten Vermögen von einer Milliarde Dollar zu den einflussreichsten Mode-Unternehmerinnen der Welt.

Der Siegeszug der Twinfluencer ist aber auch demografisch zu erklären. Von den 787 000 Geburten in Deutschland im Jahr 2018 waren mehr als 14 000 Zwillinge. Mitte der Siebziger waren es halb so viele. Der Grund: Frauen gebären heute später, was die Wahrscheinlichkeit einer Mehrlingsgeburt erhöht. Auch bei In-vitro-Befruchtungen entstehen häufiger Zwillinge, vor allem aber zweieiige. Werden Zwillinge deshalb bald so normal, dass man einfach an ihnen vorbeiscrollt? Wohl eher nicht. Aber auf Youtube und Instagram positionieren sich schon die ersten Profile, die ihnen irgendwann den Rang ablaufen könnten: Drillings-Influencer. Noch sind die meisten von ihnen Babys, sie werden noch von ihren Eltern gefilmt. Aber die Zeit ist auf ihrer Seite. Und die Mathematik auch: 2018 kamen in Deutschland nur 260 Drillinge auf die Welt.

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Quelle:
SZ vom 21.12.2019/mane
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