Zweiter Weltkrieg in der Sowjetunion:Generalstabsoffizier gegen die Gräuel

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Helmuth Groscurth war Nazigegner. (Foto: SZ Photo)

Wie sich Wehrmachts-Oberst Helmuth Groscurth dem Morden in der Sowjetunion widersetzte - und schon früh den deutschen Untergang voraussah.

Von Christian Streit

"Man muss sich schämen, noch ein Deutscher zu sein!" Diese Worte notierte Helmuth Groscurth in sein Tagebuch, man schrieb den 9. November 1938, den Tag des Pogroms gegen die deutschen Juden.

Das Besondere daran ist, dass der Mann, der dies voll Erbitterung niederschrieb, zum Generalstab der Wehrmacht gehörte. Helmuth Groscurth gehört zu der winzigen Gruppe von Offizieren in höherer Dienststellung, die schon vor dem Krieg und dann auch in der Zeit der Siege konsequent bei ihrer Gegnerschaft zum Nationalsozialismus blieben.

Frühe, konsequente Gegnerschaft zu Hitler

Aktiver Widerstand von Soldaten gegen die verbrecherische Kriegsführung war selten. Selbst Generäle, die am 20. Juli 1944 eine führende Rolle spielten, wie Carl-Heinrich von Stülpnagel und Erich Hoepner, waren 1941 in die Vernichtungspolitik, welche dem Angriff auf die Sowjetunion folgte, integriert gewesen.

Groscurth, Sohn eines evangelischen Pfarrers, ist mit seinen, wie er selbst sagte, "alten preußischen und christlichen Anschauungen" dem streng konservativen Lager zuzuordnen. Seine Grundüberzeugungen ähneln denen von Führern des Widerstandes wie Generaloberst Ludwig Beck und Ulrich von Hassell, die ihn beide sehr schätzten.

Beeindruckend sind seine frühe, konsequente Gegnerschaft zu Hitler, seine moralische Integrität und die Bereitschaft, ohne Scheu vor Konflikten nach seinen Überzeugungen zu handeln, auch wenn das seiner Karriere schadete.

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Den Chef des Reichssicherheitshauptamts, SS-Gruppenführer Reinhard Heydrich, bezeichnete er in seinem Tagebuch als "Verbrecher" - schon vor dem Novemberpogrom 1938, das anderen Konservativen erst die Augen öffnete.

Er scheute nicht davor zurück, bei Gestapochef Müller für verfolgte Pfarrer der Bekennenden Kirche einzutreten. Trotz seines relativ niedrigen Ranges als Oberstleutnant i. G. (im Generalstab) hatte er als Verbindungsoffizier zwischen Admiral Wilhelm Canaris, dem Chef der nachrichtendienstlichen Abwehr im Oberkommando der Wehrmacht, und dem Generalstabschef des Heeres, Generaloberst Franz Halder, erhebliche Einflussmöglichkeiten.

So spielte er zwischen 1938 und Ende Januar 1940 bei den - damals nicht völlig aussichtslosen - Bemühungen um die Organisation eines Staatsstreichs gegen Hitler eine wichtige Rolle.

Die Kriegspolitik Hitlers hielt er für verbrecherisch, weil "jede sittliche Grundlage" fehle. In der Sudetenkrise 1938 konnte er darauf zählen, dass Teile der Heeresführung die Wehrmacht nicht für kriegsbereit hielten.

Nach dem Sieg über Polen Ende September 1939 war die Opposition in Teilen der Generalität noch größer, da sie in dem geplanten Angriff auf Frankreich, der England endgültig in einen erneuten "großen Krieg" ziehen musste, ein zu großes Risiko sahen.

Dazu kam die Empörung über die Massenmorde in Polen und, bei kirchlich gebundenen Generalen, die Erregung über den Kampf der Partei gegen die Kirchen und über einen Himmler-Erlass, der wegen der erwarteten Kriegsverluste die SS-Männer zur Zeugung unehelicher Kinder aufforderte. Groscurth reiste zu den Armeen im Westen, um dort mit konkreten Berichten über die Morde in Polen die Bereitschaft zur Opposition anzufachen.

Im Film wird an Groscurth erinnert - aber leider völlig falsch

Halder jedoch, der auch diese Linie vertreten hatte, schwenkte im Spätherbst 1939 um, weil er die Chance sah, sich mit einem Sieg gegen Frankreich als großer Feldherr zu profilieren. Groscurth machte sich bei ihm mit seinem Drängen so unbeliebt, dass er auf den Posten eines Bataillonskommandeurs abgeschoben wurde, was eine Degradierung bedeutete.

Gegen die Siegeseuphorie der Generalität blieb er immun. Anders als diejenigen Widerständler, die erst nach der Niederlage von Stalingrad zur Jahreswende 1942/1943 umdachten, hatte er schon im Dezember 1941 "nicht den geringsten Zweifel", dass Deutschland in diesem Krieg zugrunde gehen würde.

Selbst den historisch Interessierten ist Groscurth leider nur durch den Fernsehfilm "Die Grube" von Karl Fruchtmann bekannt, der die Rolle des Offiziers im Konflikt um die Erschießung jüdischer Kinder in der ukrainischen Stadt Bjelaja Zerkov völlig falsch darstellt. Groscurth, Ia (Erster Generalstabsoffizier) der 295. Infanteriedivision, erfuhr am 20. August 1941, dass etwa 90 jüdische Kinder unter furchtbaren Umständen eingesperrt waren.

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Ihre Eltern waren erschossen worden, auch sie sollten vom SS-Sonderkommando 4a umgebracht werden. Er intervenierte und untersagte dem Ortskommandanten und dem Feldkommandanten - auch sie rabiate Antisemiten - die Fortsetzung der Aktion.

Er wandte sich an die Heeresgruppe Süd, um ein Verbot der Erschießungen zu erreichen, wurde aber an die zuständige 6. Armee des Feldmarschalls Walter von Reichenau verwiesen. Reichenau befahl die Erschießung der Kinder und rügte Groscurth scharf.

Fruchtmann stellt Groscurth als einen Offizier dar, der gegen den Völkermord nichts einzuwenden hatte und der sich nur daran störte, dass seine Soldaten Zeugen der Massenerschießung von Kindern werden sollten. Zu dieser Sicht hätte Fruchtmann nicht kommen können, wenn er seine Quellen gründlicher gelesen hätte.

Groscurth hatte in seiner Meldung an die Heeresgruppe Süd argumentiert, dass es "zur Aufrechterhaltung der Manneszucht erforderlich (sei), dass alle ähnlichen Maßnahmen abseits der Truppe erfolgen".

Fruchtmann schließt daraus, dass es Groscurth nur um die Form der Morde gegangen sei. Er hat nicht verstanden, dass widerständiges Handeln nur erfolgversprechend war, wenn man Argumente verwendete, die auch hitlergläubige Vorgesetzte nicht einfach abtun konnten.

Die Aufrechterhaltung der Disziplin war ein solches Argument. Groscurth hatte aber darüber hinaus äußerst deutlich Stellung gegen die Morde bezogen: "In vorliegendem Falle sind aber Maßnahmen gegen Frauen und Kinder ergriffen, die sich in nichts unterscheiden von Greueln des Gegners, die fortlaufend der Truppe bekanntgegeben werden."

Er bezog sich auf die Massenerschießungen des NKWD in Lemberg vor dem deutschen Einmarsch - ein damals überaus provokanter Vergleich, setzte er doch damit die Erschießungen der SS-Einsatzkommandos mit den Morden der sowjetischen Geheimpolizei gleich.

Außerdem hatte Groscurth schon Anfang Juli 1941 einen Pogrom in Zloczow unterbunden, wo Ukrainer 900 "Juden und Russen einschließlich Frauen und Kindern" auf offener Straße ermordet hatten.

Die Division "Wiking" der Waffen-SS und die 9. Panzerdivision, welche die Stadt eingenommen hatten, hatten dem Pogrom zugesehen, die "Wiking" hatte auch aktiv daran teilgenommen. Groscurth selbst hatte schon am Vortag dem IV. Korps gemeldet, "dass die SS wahllos russische Soldaten und auch Zivilisten, die ihnen verdächtig erscheinen, in Massen erschießen".

Groscurths Eingreifen war auch das einzige Mal, dass ein Wehrmachtoffizier in einer höheren Dienststellung versuchte, "dem Rad in die Speichen zu greifen", und das zu einer Zeit, als die Dinge noch im Fluss waren.

Die Forschung hat inzwischen geklärt, dass die SS-Einsatzgruppen im Sommer 1941 keineswegs einen Befehl zur Ermordung aller Juden hatten. Die NS-Führung wollte damals nach dem als sicher geglaubten schnellen Sieg über die Rote Armee im Herbst 1941 die "Judenfrage" dadurch lösen, dass man die Juden "nach Osten abschob", wo sie in den Weiten Sibiriens zugrunde gehen würden.

Die Erschießung der Kinder von Bjelaja Zerkow fand also zu einer Zeit statt, in der die Chefs der Mordeinheiten der SS erkundeten, wie radikal sie gegen die Juden vorgehen konnten.

Das Abkommen zwischen dem Oberbefehlshaber des Heeres, Brauchitsch, und Heydrich zur Tätigkeit der SS-Einsatzgruppen vom April 1941 erlaubte den in den rückwärtigen Armeegebieten eingesetzten SS-Sonderkommandos eigentlich lediglich die "Sicherstellung besonders wichtiger Einzelpersonen (führende Emigranten, Saboteure, Terroristen usw.)".

Feldmarschälle wie Reichenau hätten mit Berufung auf das Abkommen die Massenerschießungen ohne weiteres verhindern können.

Groscurth hätte mit Sicherheit zu den Verschwörern des 20. Juli 1944 gehört. Dazu sollte es nicht kommen. Sein Korps ging mit der 6. Armee in Stalingrad unter. Er gehörte zu denen, die vergebens für den Ausbruch aus dem Kessel plädierten.

"Ob und wie man das verantworten will vor dem deutschen Volk?"

Das Kapitulationsverbot, das Hitler erlassen hatte, sah er zu Recht als politisch begründet an: "Es wird bis zur letzten Patrone gekämpft, und dann müssen 260 000 Menschen für immer abgeschrieben werden. Ob und wie man das verantworten will vor dem deutschen Volk, das müssen andere wissen."

Groscurth wurde am 2. Februar 1943 in Stalingrad gefangen genommen und starb zwei Monate später an Fleckfieber.

Der Autor, Jahrgang 1942, ist Verfasser des ersten Standardwerks über die Ermordung von Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen in Lagern der Wehrmacht: "Keine Kameraden" (1978).

© SZ vom 09.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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