Zwangsadoption in der DDR:Wie ein Handbuch der seelischen Grausamkeit

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Die Geschichten dort lesen sich wie ein Handbuch der seelischen Grausamkeit. Es geht um Mädchen, die unter dem Vorwand einer ärztlichen Untersuchung in Heime verschleppt wurden und denen man sagte, ihre Eltern seien bei einem Unfall ums Leben gekommen. Um Mütter, denen Ärzte noch im Kreißsaal erzählten, ihr Baby sei bei der Geburt gestorben, "unser Beileid". Die Leiche sei zu Forschungszwecken freigegeben, einen Totenschein gebe es nicht, eine Beerdigung auch nicht. Von Vätern ist die Rede, die ihre Kinder nach versuchter Republikflucht verloren und sie bis heute nicht sehen dürfen.

Zwangsadoption in der DDR: "Man soll wissen, was wir durchgemacht haben": Katrin Behr als Siebenjährige in der DDR.

"Man soll wissen, was wir durchgemacht haben": Katrin Behr als Siebenjährige in der DDR.

Die Fälle sind oft verworren, sehr verschieden gelagert und vor allem - schwer nachvollziehbar. "Die DDR-Bürokratie hat Spuren von Unrecht stets hervorragend verwischt", sagt der Politologe Uwe Hillmer vom "Forschungsverbund SED-Staat" an der Freien Universität Berlin. Ob eine Adoption erzwungen wurde und wie diese ablief, sei im Einzelfall kaum zurückzuverfolgen. Das ganze System basierte auf Uneindeutigkeit. Mit den Fällen waren konkurrierende Behörden gleichzeitig befasst, in welchen Akten sich entscheidende Hinweise finden, sei oft unklar, "und viele Akten sind in den letzten Tagen der DDR einfach verschwunden", sagt Hillmer. Wenn ein Einverständnis zur Adoption nur durch Täuschung der Eltern zustande kam oder erpresst wurde, lässt sich das heute nur selten beweisen.

Die meisten Kindesentzüge erfolgten wegen Verurteilungen nach dem so genannten Asozialenparagraphen, im Volksmund "Assifalle". Ein extrem schwammiger Passus aus dem Strafgesetzbuch der DDR: Wer die öffentliche Ordnung gefährdete, etwa durch wiederholte Arbeitsverweigerung oder "asoziales Verhalten", der hatte mit Konsequenzen zu rechnen. Vor allem war er nach häufiger Einschätzung der Behörden nicht in der Lage, seine Kinder zu "sozialistischen Persönlichkeiten heranzubilden". Erziehung war in der DDR Staatsziel, keine Privatsache.

Bei Katrin Behrs Mutter reichten der Status als Alleinerziehende, einige unvorsichtige Bemerkungen über das Regime, ein Ladendiebstahl und die Weigerung, im Schichtdienst zu arbeiten. Sie war fast fünf Jahre in Haft. Dass die Mutter keine Chance hatte, ihre Kinder zu finden, erfuhr Behr erst 2007 aus ihrer Jugendamtsakte. Seit 1990 gilt die Rechtslage der Bundesrepublik Deutschland, die davon ausgeht, dass eine Adoption stets mit Einwilligung erfolgt. Was bedeutet, dass die Akten für Eltern über 50 Jahre gesperrt sind. Adoptierte Kinder haben indes "Teileinblicksrecht" in ihre Akte und damit die Chance, ihre Eltern zu finden. Wenn sie denn wissen, dass sie adoptiert wurden.

Opfer von Adoptionen ohne Einwilligung der Eltern sind im Einigungsvertrag schlicht vergessen worden", erklärt der Politologe Hillmer. Es gebe Wichtigeres, vertraute ihm mal ein Minister und Weggefährte Helmut Kohls an: "Vergessen Sie die Vergangenheit, wir bauen hier die Zukunft." Ein früherer Stasi-Offizier sagte zu Hillmer: Klar, es gebe diese Fälle, aber kaum Beweise. "Vom wirklichen Ausmaß des Unrechts habt ihr keine Ahnung."

Manche weinen nur am Telefon

Natürlich gab es auch Aufmerksamkeit. Spielfilme zum Jahrestag der Wiedervereinigung. Mit adretten Familien, die bei der Republikflucht verhaftet werden und wacker um ihre Kinder kämpfen. Die Menschen, die Katrin Behr am Telefon hat, sind anders. Manche rufen an, um Suchanzeigen nach den leiblichen Eltern aufzugeben und bitten später darum, sie wieder rauszunehmen - "weil meine Adoptiveltern dagegen sind, Sie verstehen?" Manche weinen nur am Telefon. Andere melden sich monatelang nicht. Wieder andere muss man für einfachste Anfragen zu Ämtern begleiten, auf denen sie Sachbearbeiter treffen, die schon vor 25 Jahren ihre Zwangsadoption betreut haben.

Katrin Behr sitzt nun seit fast drei Stunden auf ihrem Bürostuhl und redet. Es ist Mittag, der Himmel wird heute nicht mehr aufreißen. 1050 Suchanfragen hat Behr bereits registriert, die tatsächliche Zahl der Betroffenen zu schätzen, sei unseriös, es gebe viel Forschungsbedarf, sagt sie. Persönlich glaubt Behr an "mehrere Tausend". In 225 Fällen konnten Angehörige ausfindig gemacht werden. Doch sie weiß auch, dass das ersehnte Happy-End mit dem Wiedersehen nicht eintritt.

Als Behr 1991 ihre leibliche Mutter wiederfand, träumte sie von großer Familienzusammenführung, "bei der sich alle toll verstehen". Beim ersten Treffen kam es zum Eklat. "Ihr habt mir mein Kind gestohlen, ihr roten Schweine", schrie ihre Mutter die Adoptiveltern an. Bis heute ist Behr hin- und hergerissen zwischen zwei Müttern und Brüdern. Versöhnung, Bruch, Versöhnung, wieder Bruch. Derzeit ruht der Kontakt zur Adoptivfamilie.

Auch an eine Gesetzesänderung glaubt sie nicht mehr. Aber sie wird weitererzählen. Und zuhören, seit Januar 2010 nicht mehr ehrenamtlich, sondern für die Geschäftsstelle der Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft. "Unglaublich gefreut" habe sie sich über den Job, sagt sie. Es ist ihre erste Arbeit, bei der sie das Gefühl hat, sie habe mit ihr zu tun. Sie musste lernen zu trennen. Die Schicksale nach Dienstschluss auszublenden, weil sie sonst wach liegt nachts, "weil ich sonst wahnsinnig würde".

Ende September startet die erste Berliner Selbsthilfegruppe. Wenn sich Beweise finden, haben Klagen von Opfern des Asozialenparagraphen inzwischen etwas öfter Erfolg. "Kleine, aber ermutigende Schritte", sagt Katrin Behr und verabschiedet sich, ein Kollege holt sie zum Essen ab. Und sonst? Einmal hat sie in einem Brief an Bundestagspräsident Norbert Lammert ihren Fall geschildert und gefragt, wie das denn nun sei mit der offiziellen Anerkennung der Opfer von Zwangsadoptionen. Ob diese kein Recht auf Entschädigung hätten. Im Antwortschreiben war von großem Leid die Rede, verursacht durch eines der "dunkelsten Kapitel der SED-Herrschaft". Und davon, dass sich an den Gesetzen, an der komplizierten Aktenlage leider nichts geändert habe. "Ich wünsche Ihnen und Ihrer Mutter weiterhin Kraft", stand auch noch in dem Brief.

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