Zum 60. Geburtstag des Latex-Schnullers:Stöpsel im Gesicht

Früher waren es mit Zwiebackbrei gefüllte Leinwandsäckchen, heute nuckeln die Kleinen an Silikon-Schnullern von Nuk: eine kleine Kulturgeschichte des Saugens.

Martin Zips

"Ich bin in Mannheim zur Welt gekommen, aber schon mit vier Jahren weggezogen. Und doch hat sich Entscheidendes dort abgespielt", schrieb der Sportfunktionär Gerhard Mayer-Vorfelder vor zwei Jahren einmal in der Zeit. "Ich erinnere mich genau, wie ich in einer Anwandlung von Mut und Stolz im Alter von drei Jahren meinen Schnuller in den Neckar geworfen habe. Am Abend habe ich ihn dann schrecklich vermisst und bittere Tränen geweint, als meine Mutter sich weigerte, mir einen neuen zu kaufen."

Schnuller, Nuckel, Baby, Getty Images

Noch ist an die Trennung vom geliebten "Nuki" gar nicht zu denken.

(Foto: Foto: Getty Images)

Diese Geschichte ist besonders für junge, unerfahrene Eltern auch außerhalb Mannheims interessant, da sie mindestens drei Fragen aufwirft: 1. Wie konnte Mayer-Vorfelder, der 1933 geboren wurde, als Dreijähriger seinen Schnuller in den Neckar werfen, wenn der Schnuller - wie dieser Tage oft behauptet - erst im August 1949 erfunden wurde? 2.Wie gelingt es Eltern, ihre Kinder vom Schnuller zu entwöhnen, ohne dass ihre Kinder "bittere Tränen" weinen, wie sie beim kleinen Mayer-Vorfelder über die Wangen rollten? 3.Werden alle Menschen, die bereits als Dreijährige "in einer Anwandlung von Mut und Stolz" ihren Schnuller von sich werfen, später zu ähnlich harten Fußballburschen wie "MV"?

Geformt wie die mütterliche Brustwarze während des Stillens

Tatsächlich wird dieser Tage nicht der Schnuller an sich 60 Jahre alt, sondern nur der Schnuller in der Gestalt, die auf Studien der deutschen Zahn- und Kiefermediziner Dr.med.dent. Adolf Müller und Prof.Dr.Dr.Wilhelm Balters zurückgeht. Geformt nach dem Vorbild der Brustwarze während des Stillens gaukelt der Schnuller auch zwischen den Mahlzeiten mütterliche Nähe vor. Experten aus aller Welt stimmen darin überein, dass sich ein auf Müller und Balters basierendes Silikon- beziehungsweise Latexteil zum effektiven Kiefertraining wesentlich besser eignet, als beispielsweise der menschliche Daumen. Dessen harte Struktur deformiert den Kiefer und lässt Zähne wandern, weshalb er - nur folgerichtig - dem Daumenlutscher Konrad im Kinderbuch "Struwwelpeter" von einem hilfsbereiten Schneider abgeschnitten wird.

Mit Zwiebackbrei gefüllte Leinwandsäckchen

Bei Schnullern, die vor 1949 aus dem Kinderwagen, vom Balkon oder in den Neckar geworfen wurden, handelte es sich um eher unhandliche Modelle aus Kautschuk - oftmals zu hart oder mit giftigen Weichmachern behandelt. Lange Zeit gebräuchlich waren auch mit zuckersüßen Zwiebackbrei gefüllte Leinwandsäckchen, wie sie sich auch auf Bildern des Simplicissimus-Zeichners Heinrich Zille finden. Nicht selten jedoch rutschten die Säckchen den Babys gefährlich tief in den Hals. Der Brei wiederum sorgte dafür, dass die Milchzähne bald vom Karies zerfressen wurden. In seinem Gedicht "Der Schnuller" warnt Wilhelm Busch vor der Beliebtheit dieser süßen Säckchen auch bei anderen Lebewesen: "Dem Willi schmeckt der Schnuller süß,/Zwei junge Hunde sehen dies./Der Willi spielt mit seiner Zehe,/die Wespe lauert in der Nähe." Später streiten sich Hunde und Wespe um den Breisack, was dem armen Willi traumatische Erlebnisse beschert.

Nie jedenfalls war der Schnuller beliebter als heute. Dass er auch "Nuki" genannt wird, hat mit dem Warenzeichen Nuk (Abkürzung für "natürlich und kiefergerecht") zu tun, unter dem das Modell Müller/Balters heute noch vertrieben wird.

Das schwierige Entschnullern

Dem schier unübersichtlichen Angebot unterschiedlicher Schnuller-Sorten steht eine ebenso unübersichtliche Fülle an Literatur gegenüber, auf welche Weise der anfangs von Eltern auch als Stöpsel gegen Lärm verwendete, später besonders auf Familienfotos unbeliebte Sauger möglichst geräuschlos wieder aus dem Kindergesicht verschwinden möge.

Nicht weniger erdrückend ist das Angebot an Kinderbüchern: Die Titel reichen von "Tschüss, mein kleiner Schnuller" über "Nick braucht keinen Schnuller mehr" bis hin zu "Florentina, die Schnullerfee". Insofern muss auch heute noch der "Mut und Stolz" aller Dreijährigen, die sich aus freien Stücken von ihrem liebgewonnenen Brustersatz trennen, bewundert werden. Der erste Schritt zum Erwachsenensein ist getan, der erste Stein zur beruflichen Karriere gelegt. Die Sehnsucht nach Liebe freilich wird den Entschnullerten ein Leben lang begleiten.

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