Zugvögel:Flugscham?

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Eigentlich überwintern Gänse im Süden. Nur die Münchner Vögel bleiben einfach da, wo sie sind. Warum nur?

Von Nadine Regel

Ab in den Süden? Von wegen! Die Münchner Gänse machen allenfalls einen Ausflug an den Starnberger See. (Foto: Florian Peljak)

München ist für vieles bekannt. Die Eisbachsurfer und das Oktoberfest, den Englischen Garten und die Universität, das Fußballstadion und das Glockenspiel am Rathaus zum Beispiel. Was aber oft nicht mal Einheimische wissen: Die bayerische Hauptstadt ist auch eine Vogelhochburg. Vor allem im Winter tummeln sich scharenweise gefiederte Touristen in der Stadt. Etwa am Ismaninger Speichersee, im Nymphenburger Park, dem Olympiapark oder dem Englischen Garten. Wer dort spazieren geht, wird über das Getümmel und Geschnatter staunen. Vor allem die Gänse machen dort einen Mordsradau. Aber sollten die nicht eigentlich im Süden sein? So wie Schwalben, Störche und Kraniche auch?

Großes Geschnatter: Auf diesem Bild tummeln sich Graugänse, Nonnengänse und Kanadagänse. Gar nicht so einfach, den Unterschied zu erkennen. (Foto: Jakob Berr)

Niemand kennt die Münchner Gänse so gut wie Silke Sorge. Die Biologin beobachtet die Tiere schon seit 15 Jahren. Sie kennt viele der Gänse beim Namen oder zumindest ihre Ringnummer, die zur Kennzeichnung am Fuß angebracht ist. Silke Sorge findet Gänse spannend, schon ihr Opa hat welche gezüchtet. Ausgestattet mit Fernglas, Notizblock und ganz viel Geduld geht sie so oft wie möglich auf Beobachtungstour. Am schönsten findet sie es, wenn sie die Tiere ganz in Ruhe beobachten kann. "Ich ärgere mich immer, wenn jemand zum Füttern kommt und das natürliche Verhalten der Gänse unterbricht", sagt sie. In den ersten Jahren hat sie die Gänse nur beobachtet. Mittlerweile kann sie ihr Verhalten deuten und sieht einer Gans zum Beispiel an, ob sie einen schlechten Tag hat oder glücklich ist.

Und die Sache mit dem Süden? Früher sind die Gänse im Herbst dorthin geflogen, dann aber wurden sie ausgerottet. Die Menschen haben sie bejagt und ihre Eier aus den Nestern geklaut. Die Gänse, die jetzt in München leben, wurden neu angesiedelt. Sie stammen aus einer Zucht und wurden von Menschen großgezogen. Das Problem: Menschen können nicht fliegen. Deshalb haben die Gänse das Wegfliegen einfach nicht gelernt. In freier Wildbahn bleiben die Küken, bei Gänsen heißen sie Gössel, nämlich ein Jahr bei den Eltern und fliegen mit ihnen alle wichtigen Strecken ab. Diese werden im inneren Navigationssystem der Vögel abgespeichert. Deshalb weiß die Gans im Herbst, wo sie zum Überwintern hinfliegen muss.

Mit Fernglas, Notizblock und ganz viel Geduld: Die Biologin Silke Sorge beobachtet die Münchner Gänse schon seit rund 15 Jahren und kennt sie ganz genau. (Foto: Florian Peljak)

Dass die Gössel nicht von ihren Eltern gelernt haben, wo sie hinfliegen sollen, ist aber nicht der einzige Grund für die Stadtüberwinterung. Silke Sorge beobachtet auch, dass manchmal Gänse zum Beispiel aus Tschechien für den Winter nach München kommen. "Das liegt am Klimawandel", sagt die Gänseexpertin. Denn in München wird es längst nicht mehr so kalt wie früher. Die Seen frieren nicht mehr zu, die Wiesen und somit das Futter verschwinden nicht mehr unter einer dicken Schneeschicht - zumindest nicht dauerhaft.

Deshalb sparen sich manche Vögel den langen und anstrengenden Flug nach Spanien oder Südfrankreich. Flugfaulpelze? Eigentlich ist das ziemlich schlau. Und falls es doch mal kälter wird, zapfen die Gänse einfach den Speck an, den sie sich im Sommer auf den saftigen Parkwiesen angefressen haben.

"Im Winter sind die Münchner Gänse dann an Gewässern, die nicht zufrieren", sagt Silke Sorge. Der Ismaninger Speichersee zum Beispiel bleibt offen, weil er einen regelmäßigen Zulauf hat. Auch der Flaucher an der Isar ist ein beliebter Überwinterungsort. Die Gänse müssen nämlich auch im Winter regelmäßig baden und ihr Gefieder säubern. Das ist wichtig, weil ihre Federn sonst ihre isolierende Wirkung verlieren und die Tiere erfrieren. Falls doch mal Schnee auf den Wiesen liegt, fressen die Gänse Laub, das sich im Herbst in den Seen und Kanälen angesammelt hat. Ein etwas matschiges Menü, aber besser als nichts.

Wie viele Graugänse es in München gibt, "ist gar nicht so einfach zu bestimmen", sagt Silke Sorge. Mal sind Gänse aus dem Ausland zu Gast, mal flattern Münchner Gänse zum Urlaub an den Starnberger See. Wahrscheinlich haben rund 1000 Gänse ihren Hauptwohnsitz in München, darunter Graugänse, Streifengänse, Nonnengänse und Kanadagänse. Silke Sorge freut sich sehr, dass sie die Wildtiere hier so gut studieren kann. Ein richtiges Spektakel ist zum Beispiel die Mauser der Gänse im Mai und Juni, wenn die Vögel ihr Gefieder komplett wechseln. Zur Mauser kommen Vögel aus ganz Europa in den Englischen Garten. Federfest!

Einige der Münchner Graugänse haben sogar Namen von Silke Sorge bekommen: Theresa, Lucy oder Stony zum Beispiel. "So kann ich besser Geschichten über sie erzählen", sagt sie. Auf regelmäßigen Touren führt sie Interessierte zu den Gänsen und erzählt Geschichten über ihre Lieblinge. Nur das wilde Geschnatter, das versteht selbst die Gänseexpertin nicht.

Was Lucy wohl zu erzählen hätte?

© SZ vom 09.01.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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