Süddeutsche Zeitung

Zivilcourage:"Entschuldigung, Ihr Slip ist zu sehen"

Unser Alltag bietet viel öfter Gelegenheit zur Zivilcourage, als wir vermuten würden. Eine Bestandsaufnahme.

Violetta Simon

"Je mehr Bürger mit Zivilcourage ein Land hat, desto weniger Helden wird es einmal brauchen." Wer würde an dem Zitat der Journalistin Franca Magnani zweifeln. Dennoch fühlen wir uns von einem großen Begriff wie "Zivilcourage" oft nicht angesprochen, denken an Flüchtlingshilfe, blutige Proteste und Bürgerrechtler, sehen Bilder von Anfeindung, Gewalttätigkeit und Aggression. Wir erinnern uns an Mahatma Gandhi, der sich für seine Sache beinahe zu Tode hungerte, und Martin Luther King, der im Kampf gegen Rassendiskriminierung sein Leben gab. Helden, die weder Prügel noch Pranger fürchten. Nichts für uns also.

Dabei bietet unser direktes Umfeld im Alltag viel öfter Gelegenheit zur Courage, als wir vermuten würden. Und damit sind noch nicht einmal die Horrorszenarien gemeint, von denen wir immer wieder hören: Frauen, die verprügelt oder Ausländer, die in der S-Bahn angepöbelt werden; Kinder, die in Schwimmbädern ertrinken - das alles in Anwesenheit von Passanten oder Schaulustigen.

Den Blicken schutzlos ausgeliefert

"Um sich für andere einzusetzen, muss nicht erst Blut fließen", erklärt Gerd Meyer, Professor und Direktor des Instituts für Politikwissenschaft der Universität Tübingen. Zivilcourage sei jeden Tag gefragt - im Arbeitsalltag ebenso wie im privaten Umfeld. Mit anderen Worten: immer dann, wenn es darum geht, aufeinander achtzugeben. "Diese Aufmerksamkeit ist uns mit der Zeit, gerade im Großstadtleben, verlorengegangen", sagt Meyer. "Jeder ist mit sich und vielen anderen Dingen beschäftigt - das muss gar nicht einmal aus Egoismus sein."

Doch selbst wenn es nicht an der Aufmerksamkeit hapert, fällt es manchmal schwer, zu helfen: Eine Frau läuft auf der Straße, mehrere Passanten drehen sich um und lachen. Der Grund: Sie hat nach einem Toilettenbesuch offenbar den hinteren Teil ihres Rocks mit in die Strumpfhose gesteckt und nun sind ihr Slip und die Beine der Öffentlichkeit schutzlos ausgeliefert. Es dauert Minuten, bis sich endlich jemand erbarmt und die Ahnungslose anspricht. Der Moment der Erkenntnis ist peinlich - für beide. Und er schafft eine intime Situation, macht sie zu Verbündeten des Missgeschicks. Deshalb gehen die meisten Leute lieber weiter. Niemand will derjenige sein, der die Frau auf ihre entwürdigende Situation aufmerksam macht. Zivilcourage erfordert manchmal eben auch Mut zur Nähe.

Man stelle sich nur vor, dasselbe passiert im Büro: Der oder die Vorgesetzte erscheint zum Meeting und hat vergessen, die Hose zu schließen. Wer möchte schon derjenige sein, der den Faux Pas anspricht? Kaum zu glauben, aber meist merken es die Führungskräfte erst im Nachhinein, dass sie ihre flammende Kritik mit offenem Hosenschlitz vom Stapel ließen. Ohne Zweifel - wer in so einer Situation den Mund aufmacht, beweist Zivilcourage.

Günther Gugel, Leiter des Instituts für Friedenspädagogik, verwendet für diesen Begriff lieber den Ausdruck "Achtsamkeit". Der Diplompädagoge, der sich auf das Thema "Gewalt an Schulen" spezialisiert hat, ist davon überzeugt, dass es Achtsamkeit gegenüber anderen "als Lebensform" anzustreben gilt.

Professor Meyer hält diese Gesinnung gerade bei Mobbing in Schulen für angebracht. "Dort sollten zwar alle Zivilcourage beweisen", meint Meyer, "den Anfang machen müssen aber die Schüler, weil das oft erst mal niemand sonst mitbekommt." Auch wenn in erster Linie Sozialarbeiter und Psychologen zuständig sind, sollte man die Verantwortung nicht abschieben. Auch Eltern und Lehrer müssten reagieren, wenn sie davon erfahren, dass ein Mitschüler gemobbt wird. Doch nicht nur an der Schule gilt: "Zivilcourage ist überall dort gefragt, wo Schwachen und Erfolglosen zu wenig Respekt entgegengebracht wird", findet Meyer.

Was man schon immer mal sagen wollte

Wie solche Maßnahmen konkret umgesetzt werden können, damit hat sich Meyer in seinem Buch "Lebendige Demokratie - Zivilcourage in Alltag und Politik" detailiert auseinandergesetzt. "Wenn eine Verkäuferin vom Abteilungsleiter oder einem Kunden runtergemacht wird, sollte man sich demonstrativ dazustellen und laut sagen: 'Ich finde Sie sehr freundlich, vielen Dank für den guten Service!'", sagt er. Für ihn steht fest: "Mut und Unrechtsbewusstein sind vor allem in Systemen von wesentlicher Bedeutung, die "von oben" gesteuert werden, erklärt der Professor. Das könne zum Beispiel ein Betrieb sein, in dem eine klare Linie vorgegeben und Widerspruch als Kritik am System verstanden werde. Das kann aber auch eine Interessengemeinschaft sein, die Gegenargumenten grundsätzlich mit Argwohn begegnet. Und es kann den Freundeskreis oder die Familie betreffen, die eine bestimmte Meinung vertritt und sich gegen jeden zusammenschließt, der aus der Rolle fällt.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Wer traut sich zu sagen, dass Onkel Arndt seine Frau unterdrückt und eine andere hat?

Zivilcourage ist eben auch die Bereitschaft, Nein zu sagen. Der demokratische Justizreformer Fritz Bauer hat einmal gesagt: "Leider ist es eine typisch deutsche Eigenschaft, den Gehorsam schlechthin für eine Tugend zu halten." Es ist ja auch viel bequemer, im Strom zu schwimmen und sich bedeckt zu halten, wenn der Kollege wieder einmal zur Schnecke gemacht wird. Man ist froh, wenn man selbst unbehelligt bleibt. Und wenn der Verein den Bau der Moschee verhindern will, sagt man lieber nichts, weil man es sich mit seinen Nachbarn und Freunden nicht verscherzen will. Wo man doch so viel hört von islamistischen Schläfern. Und wer will schon derjenige sein, der an Omas Geburtstag im Kreis der Familie ausspricht, was alle wissen: dass Onkel Arndt seine Frau Elke unterdrückt und eine andere hat. Was, wenn er es abstreitet? Und wie steht man dann da! Am Ende wird man nie mehr eingeladen, und die eigenen Kinder schämen sich für einen. Wer weiß, vermutlich ist ohnehin nichts dran, und Tante Elke ist nur etwas empfindlich.

Oft genügt der gesunde Menschenverstand

Doch machen wir uns nichts vor: Unrecht in sozialen Mikrokosmen geschieht meist ebenso offensichtlich wie körperliche Gewalt auf der Straße. Ermöglicht wird sie ebenfalls nur, weil niemand eingreift. Bemerkenswerterweise sei es oft allein der gesunde Menschenverstand, der einem in solchen Situationen die Augen öffnet und recht gibt, sagt Politikwissenschaftler Meyer.

Dennoch befürchten viele Menschen die Konsequenzen. Wer sich als Einziger gegen den Chef stellt, muss nicht nur mit dessen Unmut oder vielleicht sogar einer Kündigung rechnen. Er wird unter Umständen auch aus der Gemeinschaft der Kollegen ausgeschlossen. Meyer begründet das folgendermaßen: "Wer Missstände offen anspricht, steht nicht nur 'auf der falschen Seite' und wird aus einem Selbsterhaltungstrieb heraus vom Rest gemieden. Er prangert zugleich auch die Schwäche und die mangelnde Eigeninitiative der anderen an, die sich diesem System unterwerfen." Deshalb sei es unter Umständen klüger, sich erst Verbündete zu suchen, bevor man sich offen gegen ein System auflehnt.

Auch der Komiker Andreas Obering aus Nordrhein-Westfalen, bekannt als "Obel", hat versucht, Verbündete zu finden, als er vor einigen Jahren im Supermarkt mitbekam, wie ein paar angetrunkene junge Männer eine schwarze Familie anpöbelten. Er versuchte, die Umstehenden aufmerksam zu machen - ohne Erfolg. "Alle haben doof geguckt, keiner hat was gemacht", erzählt der 45-jährige Familienvater. Über die Alternative - den Alleingang - musste er nicht lange nachdenken: "Ich hatte so eine Wut, dass ich zurückgepöbelt habe".

Obering sieht die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs "Zivilcourage", der wörtlich übersetzt "Bürgermut" bedeutet, zwiespältig. "Selbst Nazis, die ihren Willen in der Öffentlichkeit kundtun, sind demnach couragiert", sagt er bewusst provokant. Dabei gehe es doch eher darum, als freiheitlich denkender Mensch Werte zu verteidigen.

Undank hinterlässt Narben

Obwohl er als Einziger eingriff, hat er sich später am meisten darüber geärgert, dass er dabei nicht weiter gegangen ist. Als er mit seiner Frau und den beiden Kindern aus dem Laden kommt, sieht er, wie die Männer an die Hauswand pinkeln. Am liebsten hätte er sie "in den Hintern getreten" oder wenigstens ein Foto gemacht und sie angezeigt. Doch dann hat er sich nicht getraut. Darüber könnte er sich heute noch ärgern. Das sei wie eine Narbe, sagt er.

Auch die fehlende Anerkennung einer solchen Tat kann Narben hinterlassen. Denn nicht immer zeigen sich die Menschen, für die man sich einsetzt, erkenntlich. Deshalb muss man eine Pfadfindermentalität entwickeln, rät Obering. Als Schüler hatte er an einer Tankstelle einmal mit einem 500-Mark-Schein bezahlt, das Geld stammte von einem Ferienjob. Der Tankwart gab ihm auf 1000 raus - genau die 500 Mark zu viel, die er brauchte, um sein Schlagzeug abzubezahlen. Er widerstand der Versuchung und brachte das Geld zurück. "Der Typ hat nicht einmal danke gesagt", erzählt Obel, der auch diese Handlung als Akt der Zivilcourage bezeichnet.

Wozu sich einsetzen, wenn weder Anerkennung noch Dankbarkeit erfolgt? "Weil sonst Werte verlorengehen und dann Chaos ausbricht", sagt Obering. Da müsse man sich am Kant'schen Imperativ halten. "Wenn man sich daran hält, kann niemandem etwas passieren", sagt er. "Aber man muss das auch durchsetzen".

Bei der Tankstelle hat Obering "schon aus Prinzip" nie mehr getankt. Sie ging kurz darauf pleite. Manchmal regeln sich die Dinge eben doch von selbst.

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