Zeugen Jehovas:"Schon wenn ihr mich mustert, ist das ein Erfolg"

Zeugen Jehovas: "Wie ich euch sehe"

"Wie ich euch sehe"

(Foto: Illustration Jessy Asmus)

Kein Weihnachten, kein Geburtstag, keine Bluttransfusionen - eine Zeugin Jehovas erklärt in einer neuen Folge der Serie "Wie ich euch sehe", warum solche Regeln ihr Halt geben.

Von Juri Auel

In unserer Serie "Wie ich euch sehe" kommen Protagonisten unseres Alltags zu Wort - Menschen, denen wir täglich begegnen, über die jeder eine Meinung, aber von denen die wenigsten eine Ahnung haben: eine Wiesnbedienung, ein Pfarrer, die Frau an der Supermarktkasse. Sie teilen uns mit, wie es ihnen ergeht, wenn sie es mit uns zu tun bekommen - als Kunden, Gäste, Mitmenschen. Diesmal erklärt Evi M. von den Zeugen Jehovas, welche Gebote bei vielen für Kopfschütteln sorgen. Und warum es sie trotzdem erfüllt, mit ihrem Stand an der Straßenecke zu stehen.

Ihr seid uns bestimmt schon begegnet. Weil wir bei euch geklingelt haben. Oder in einer Fußgängerzone, einem Bahnhof, wo wir unseren Stand aufbauen. Nicht, weil wir euch verfolgen - wir wollen euch Informationen anbieten, über die Bibel und über Gott, den wir Jehova nennen. Früher haben wir euch auch mal direkt angesprochen. Weil das nicht immer gut ankommt, warten wir mittlerweile, dass ihr den ersten Schritt unternehmt.

Einige von euch lassen sich gern auf ein Gespräch ein und nehmen eines von unseren Heften namens Wachtturm mit. Ich empfinde es nicht als Beleidigung, wenn ihr vorbeigeht und mich nicht beachtet. Manche aber tun nur so, dabei mustern sie uns genau. Schon alleine das ist ein Erfolg für mich. Es zeigt mir, dass ihr euch Gedanken über mich und meine Sache macht.

Gut finde ich, wenn ihr die Konfrontation sucht und mit uns diskutiert. Jedenfalls, solange ihr sachlich bleibt - das macht mitunter richtig Spaß. Aber es gibt auch solche, die anfangen zu pöbeln und uns beschimpfen. Vor einigen Jahren hat mich eine Frau, bei der ich geklingelt habe, buchstäblich aus der Haustür rausgeschmissen. Ich war geschockt. Jeder hat mal einen schlechten Tag, handgreiflich solltet ihr aber nicht werden.

Doch es geht auch anders. Eine Dame, bei der ich klingelte, bat mich und meine Begleitung zu sich rein. Sie hörte sich in Ruhe an, was wir zu sagen hatten, und entgegnete anschließend : "Vielen Dank, dass ihr euch diese Mühe macht. Davor habe ich wirklich Respekt und ich wollte euch gerne ausreden lassen. Für mich persönlich ist das aber nichts." Ich habe mich so über diese Reaktion gefreut! Jeder blieb zwar bei seiner Meinung, trotzdem hatte ich die Gelegenheit bekommen, mein Anliegen vorzubringen. Auch wenn man von etwas aus vollstem Herzen überzeugt ist und es gerne tut, ist es nicht immer leicht, dafür einzustehen.

Deshalb: Behandelt uns mit Würde und Respekt. Wenn wir bei euch klingeln und ihr keine Lust auf ein Gespräch habt, sagt das einfach. Wir gehen dann sofort und kommen auch nicht wieder. Die Polizei müsst ihr übrigens nicht rufen, wenn ihr uns seht. Das, was wir tun, ist von der Religionsfreiheit geschützt.

Manche machen einen großen Bogen um uns, weil sie Horrorgeschichten über die Zeugen Jehovas gehört und eine ganze Menge Vorurteile im Kopf haben. Wir lassen unsere Kinder sterben oder verstoßen sie aus unseren Familien, heißt es zum Beispiel. Und dass die Zeugen Jehovas eine Sekte seien. In Russland wurden die Zeugen vor kurzem als extremistische Gruppe verboten. Das war ein großer Schock für uns. Hier in Deutschland sind wir eine anerkannte Körperschaft des öffentlichen Rechts - und damit auf der gleichen rechtlichen Stufe wie die großen Kirchen. Wir könnten sogar Kirchensteuern von unseren Mitgliedern einsammeln, was wir aber nicht tun. Niemand wird gezwungen, unserer Gemeinschaft Geld zu geben. Auch gibt es keine Gehirnwäsche, was uns viele von euch vorwerfen.

Was allerdings stimmt, ist, dass wir Zeugen nach gewissen Regeln leben, die für Außenstehende nur schwer nachvollziehbar sind. So feiern wir zum Beispiel kein Weihnachten, obwohl wir Christen sind. In der Bibel steht nämlich nirgends, dass Jesus am 24. Dezember geboren wurde und dass wir dieses Fest feiern sollen. Außerdem gehen viele Bräuche rund um Weihnachten auf heidnische Feste zurück. Auch unsere eigenen Geburtstage feiern wir nicht, weil das in der Bibel nur Heiden tun. Wir finden es nicht wichtig, die Geburt eines Menschen zu feiern. Denn außer auf der Welt zu sein, hat er da ja noch nichts Besonderes geleistet.

Warum wir Bluttransfusionen ablehnen

Die Regel, die wohl bei manchen immer noch für Kopfschütteln sorgt, ist das mit dem Blut. Gemäß der Bibel ist Blut etwas Heiliges, mit dem umzugehen Gott vorbehalten ist. Deswegen lehnen wir Bluttransfusionen ab - und nehmen die möglichen Konsequenzen in Kauf. Genau wie Ihr, indem ihr einer Bluttransfusion zustimmt. Niemand kann mit Sicherheit sagen, dass jemand stirbt, weil er eine Bluttransfusion ablehnt — oder dass er überlebt, weil er sie akzeptiert.

Wir verwenden lieber blutlose Alternativen und engagieren uns in Zusammenarbeit mit kooperativen Ärzten und Krankenhäusern dafür, dass die Forschungen auf diesem Gebiet vorangetrieben werden. Fernsehen und Presse haben in den letzten Jahren wiederholt auf die damit verbundenen medizinischen Risiken hingewiesen. Auch in der Fachwelt ist unsere Haltung zu Bluttransfusionen keine große Kontroverse mehr.

Warum wir alle Gebote der Bibel ernst nehmen? Weil sie sich nach unserer Überzeugung langfristig immer als vorteilhaft erweisen. Manche Themen sind sehr komplex, daher kann ich nur jedem empfehlen: Bevor ihr euch ein Urteil bildet, informiert euch über die Hintergründe! Denn es ist bei Weitem nicht alles so wie es in vielen Köpfen vorherrscht.

Ich persönlich finde es gut, dass es diese Regeln gibt. Ich empfinde sie nicht als bedrückendes Gefängnis, sondern als Geländer, das mir in einer immer komplexeren Welt, in der vieles ungewiss ist, Halt und Schutz gewährt - auf meinem Weg zu einem höheren, übergeordneten Ziel. Dennoch erfülle ich die Vorgaben, die eher wie eine höfliche Bitte und nicht als strenges Gesetz formuliert sind, nicht blind. Wir Zeugen werden angehalten, uns immer wieder intensiv und kritisch mit den Geboten auseinanderzusetzen. Grundsätzlich glauben wir aber, es gibt jemanden dort oben, der besser weiß, was gut für uns ist als wir selbst. Deswegen folgen wir ihm so bereitwillig.

Übrigens kann man auch nicht durch eine einfache Unterschrift Zeuge werden. Das Taufen von kleinen Kindern ist bei uns unüblich - als Zeuge getauft wird man frühestens als junger Erwachsener. Und zwar, nachdem man wiederholt gefragt wurde, ob man sich ganz, ganz sicher ist, nach Jehovas Geboten leben zu wollen. Ich war 17, als ich mich dafür entschied.

Kinder von Zeugen Jehovas werden also nicht automatisch Zeugen. Sie können sich frei entscheiden, wenn sie alt genug dazu sind, ob sie den Glauben annehmen möchten. Mein jüngerer Bruder hat sich nie als Zeuge taufen lassen - wir waren früher katholisch. Das war kein größeres Problem für meine Eltern. Etwas anderes wäre es gewesen, wenn er nach seiner Taufe mit dem Glauben gebrochen und wissentlich gegen Jehovas Gebote verstoßen und seinen Eid gebrochen hätte. Dann hätte meine Familie den Kontakt zu ihm auf ein Mindestmaß beschränkt. Ich wäre meinen Eltern nicht böse, wenn sie meinen Bruder deswegen meiden würden.

Das klingt für euch unmenschlich, oder? Wie können die nur, denkt ihr euch. Solche Gelübde, die ähnlich wie ein Eheversprechen sind, bedeuten euch heutzutage nicht mehr viel. Doch wir Zeugen betrachten Gott als unseren besten Freund, dem wir unser ganzes Leben versprochen haben. Und wer meinem besten Freund wehtut, weil er ihn bestiehlt oder beleidigt, den meide ich, bis die Sache geklärt ist. Das finde ich nicht so außergewöhnlich.

Ihr tut das allerdings schon. Das ist auch der Grund, warum wir Zeugen gern unter uns bleiben. Meine besten Freunde in der Schulzeit waren Zeugen. Das geht nicht gegen euch. Menschen suchen sich Freunde, die ihre Interessen teilen und ähnlich ticken. Viele von euch machen gerne Party bis sie umfallen, wenn sie jung sind. Wir trinken auch Alkohol, aber nicht zu viel. Im Rausch passieren schnell Dinge, mit denen Jehova nicht einverstanden wäre. So wie wir eure Partys akzeptieren und respektieren, wäre es schön, wenn ihr Verständnis dafür haben würdet, wenn wir bei so etwas nicht mitmachen möchten. Das heißt nicht, dass wir euch nicht mögen.

Es ist okay, wenn ihr von alledem nichts wissen wollt und uns links liegen lasst. Aber manchmal denke ich: Wenn ihr wüsstet. Wenn ihr wüsstet, wie es wirklich bei uns ist und wie gut es mir tut, wie es mich erfüllt, wenn ich da am Bahnhof, an einer Straßenecke, vor der U-Bahn stehe. Ich stehe da, weil ich euch wünsche, genauso glücklich werden zu können wie ich.

In dieser Serie kommen Menschen zu Wort, mit denen wir täglich zu tun haben, über die sich die meisten von uns jedoch kaum Gedanken machen. Sie teilen uns mit, wie es ihnen im Alltag ergeht und welche Rolle wir dabei spielen - als nervige Kunden, ungeduldige Patienten, ignorante Mitmenschen.

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