Zermatt:Gefährliche Seilschaften

Die Geschichte der Erstbesteigung des Matterhorns ist nach 150 Jahren noch ein großes Drama.

Von Titus Arnu

Das Riffelhorn ist im Vergleich zum Matterhorn nur ein Hörnli. Knapp 3000 Meter statt fast 4500 Meter hoch. Es gibt kein Eis, keinen Schnee, keinen Steinschlag und keine 1100 Meter hohe Nordwand. Dafür aber eine grandiose Aussicht auf 20 Viertausender, griffigen Fels und mittelschwere bis schwere Kletterrouten. "Plaisir-Klettern" nennt der Schweizer so etwas. Zum reinen Vergnügen sind wir aber nicht hier: Die Zermatter Bergführer unternehmen mit Gästen, die aufs Matterhorn wollen, gerne Trainingstouren am Riffelhorn, denn dort lässt sich die anstrengende Grat-Kletterei am großen Bruder, der von den Einheimischen "Hore" genannt wird, recht gut simulieren.

"Zehn Zentimeter weiter rechts, da ist ein Griff", ruft Benedikt Perren von oben. Vom Gletscher weht kühler Wind hoch, trotzdem kommt man an der Riffelhorn-Südwand ganz schön ins Schwitzen. Aus Sicht des Bergführers ist die Tour ein Test: Wenn der Gast die sechs Seillängen am Riffelhorn nicht schafft, braucht er am zehnmal größeren und viel höher gelegenen Hörnligrat gar nicht erst anzutreten. Also ein beherzter Griff nach rechts, ein Schritt auf den winzigen Felsvorsprung links - und weiter geht's. "Tipptopp!", lobt Perren. Er war 235 Mal auf dem Matterhorn, und er sieht sofort, ob einer das Zeug hat für den Gipfel oder nicht. Benedikt Perren, 48, ist Präsident der Zermatter Bergführer, und er ist der Urururenkel von Peter Taugwalder senior, der vor 150 Jahren ebenfalls als Bergführer in Zermatt arbeitete. Mit einem Taugwalder-Nachfahren an einer steilen Felswand, das Seil straff gespannt, links ragt das Matterhorn in die Szene - einen besseren Cliffhanger gibt es kaum für diese Geschichte.

Okay, machen wir mal kurz einen Schnitt. Wobei "Schnitt" ein ganz schlechtes Stichwort ist, wenn es um ein Kletterseil und die Familie Taugwalder geht. Sagen wir besser: Abblende, anschließend Panoramaschwenk hinüber zu dieser unfassbaren Pyramide aus Fels, Schnee und Eis. Das Matterhorn: meistfotografierter Berg der Erde, 4478 Meter, einer der höchsten Gipfel der Alpen. Dieser Berg ist ein Mythos, man kennt zwar seine ikonische Form von Fotos, aber wenn man persönlich vor ihm steht, bleibt einem dann doch der Atem weg. Immer wieder. Er schreckt die Menschen ab und zieht sie gleichzeitig an, seit der Erstbesteigung am 14. Juli 1865 durch Edward Whymper, Reverend Charles Hudson, Douglas Robert Hadow, Lord Francis Douglas, mit den Bergführern Michel Auguste Croz, Peter Taugwalder und dessen Sohn Peter. Zum Jubiläum veranstaltet Zermatt ein riesiges Brimborium, mit Ausstellungen, einem "Walk of Climb" im Dorf, Konzerten, Lesungen, einem Gedenkgottesdienst auf dem Gipfel und einem Freilufttheater.

Zermatt: Die Erstbesteiger um Edward Whymper.

Die Erstbesteiger um Edward Whymper.

(Foto: Zermatt Tourismus)

Zwei Millionen Touristen kommen jedes Jahr nach Zermatt, natürlich vor allem wegen des Matterhorns

Der Berg ist in Zermatt sowieso schon omnipräsent, aber wer in diesen Tagen durch das Bergdorf spaziert, entkommt dem "Hore" garantiert nicht mehr. Die Brauerei Calanda hat Jubiläumsbier in Spezialflaschen abgefüllt, Victorinox hat ein Jubiläums-Taschenmesser im Angebot, das Wollschaf "Wolli" erzählt die Geschichte der Erstbesteigung kindgerecht in einem Bilderbuch nach. Abba-Sängerin Anni-Frid Lyngstad, die seit einigen Jahren in Zermatt lebt, hat zusammen mit dem Sänger Urs Biner alias Dan Daniell die Hymne "1865" aufgenommen. Das Matterhorn ist eine der stärksten Marken der Schweiz, zwei Millionen Touristen kommen im Jahr nach Zermatt, hauptsächlich wegen des zackigen Gipfels. Die Umrisse des Berges prangen auf Bonbons, Schokolade, Kondom-Packungen, Münzen, Briefmarken, Zuckertütchen, es gab auch mal eine Zigarettenmarke "Matterhorn", Geschmacksrichtung "menthol-supercool". Der Berg wird Stück für Stück verscherbelt, im wörtlichen Sinne: Die Firma Swiss Rock Art bietet Mini-Matterhörner aus Originalgestein an, neun mal neun Zentimeter groß, das Stück zu 149 Franken.

Zurück zum Riffelhorn, wo es angenehm ruhig ist, nur zwei andere Seilschaften sind unterwegs. Benedikt Perren lässt seinen Gast jetzt an einem Fixseil üben, das dicke Tau wurde extra in ein kleines Couloir gehängt, damit man ausprobieren kann, wie es ist, sich daran senkrecht in die Höhe zu ziehen. Solche Fixseile sind am Hörnligrat an besonders steilen Stellen angebracht, etwa am "Dach" unterhalb des Gipfels. Dort, auf etwa 4300 Metern, befindet sich auch die Stelle, an der es vor 150 Jahren beim Abstieg zur Katastrophe kam. Einer der Engländer rutschte aus, vier Männer stürzten in die Tiefe. Die beiden Zermatter Bergführer und Whymper überlebten. Eine ernsthafte Debatte über den Sinn und Unsinn alpiner Abenteuer entspann sich. Queen Victoria erwog, das Bergsteigen zu verbieten. Es kursierten bald wilde Theorien über die Ursache des Absturzes: Hatte Vater Taugwalder das Seil gekappt, um sein eigenes Leben zu retten? War Whymper mit seinem Überehrgeiz für die Tragödie verantwortlich?

Das Seil, immer wieder das Seil. Darum geht es auch im Freilichttheater, das die Berner Regisseurin Livia Anne Richard auf einer Wiese unterhalb des Riffelhorns inszeniert, in 2600 Metern Höhe gleich neben der Zahnradbahnstation Riffelberg. Es gibt Plätze für 700 Zuschauer, von der Tribüne aus sieht man den Sonnenuntergang am Hore, 37 Aufführungen von "The Matterhorn Story" sind geplant. 40 Darsteller, die meisten von ihnen Laien, spielen das Drama in einer wilden Mischung aus Deutsch, Englisch und Walliser Dialekt. "Ich wollte bezüglich der Taugwalders etwas Fairness reinbringen", sagt Richard, "das ist mein Hauptanliegen." Über viele Generationen war nur die Sicht von Whymper bekannt. Kein Wunder, denn während die Taugwalders Analphabeten waren, beschrieb der Brite seine Version ausführlich in Büchern. Sich selbst stilisierte er zum Helden, die Zermatter Bergführer machte er zu Deppen. Mehr noch, er beschuldigte sie des Mordes.

The Matterhornstory

David und Josef Taugwalder spielen in dem Stück "The Matterhorn Story" ihre Vorfahren.

(Foto: Hannes Zaugg-Graf)

Regisseurin Richard, die sich selbst als "nicht besonders bergaffin" bezeichnet, war von den Storys rund um die dramatische Erstbesteigung so fasziniert, dass sie ungefragt ein Theaterstück darüber verfasste und den Zermattern anbot. "Die Geschichte hat alle Elemente eines Dramas", sagt sie, "Rache, Eifersucht, Klassenunterschiede, Aberglaube - und noch dazu ist sie eine universelle Metapher für Aufstieg und Fall." Josef Taugwalder, 50, ebenfalls ein Urururenkel von Vater Taugwalder, war der Erste, der das Stück zu lesen bekam. "Ich las es in einer Nacht durch und war begeistert", sagt er. Nun steht Vater Taugwalder als Vater Taugwalder auf der Bühne, sein Sohn David, 23, tritt als Sohn Taugwalder auf. Josef Taugwalder arbeitet als Treuhänder und war erst einmal auf dem Matterhorn, trotzdem sei der Berg immer das zentrale Thema in seiner Familie gewesen. "Aus touristischer Sicht sollte Whymper früher eben der Held bleiben", sagt Josef Taugwalder, "schließlich wollte man die Touristen aus England nicht verärgern."

Die Walliser glaubten Peter Taugwalder damals nicht, als dieser 1865 vor Gericht erklärte, Edward Whymper habe das dicke Hanfseil 200 Meter unterhalb des Gipfels mit einem Messer zerschnitten, um als Erster das Ziel zu erreichen. Die Taugwalders bekamen daraufhin kaum noch Arbeit als Bergführer, Vater Taugwalder wanderte in die USA aus und kam erst viele Jahre später wieder zurück. Die Prozessakten waren bis vor 50 Jahren unter Verschluss. Noch heute, in vierter und fünfter Generation, sind die Taugwalders dabei, ihre Familie zu verteidigen. Matthias Taugwalder, ein weiterer Nachfahre der Erstbesteiger, hat für die Ausstellung "Die Suche nach der Wahrheit" im Matterhorn-Museum historische Dokumente, Fotos und Briefe zusammengetragen. Es zeichnet sich mittlerweile ein anderes Bild ab: "Whympers Vorwürfe sind unhaltbar", sagt Benedikt Perren. "Sie haben damals das Bestmögliche aus der Situation gemacht." Vater Taugwalder habe gar nicht mehr die Zeit gehabt, das Seil durchzuschneiden, während er verzweifelt versuchte, die vier Abgestürzten zu halten.

Livia Richard sagt, für sie gebe es eine gefühlte Wahrheit: "Ein Bergführer möchte nichts anderes, als seine Gäste heil ins Tal bringen." Das sieht Benedikt Perren genauso, nachdem er mit seinem Gast die Nordseite des Riffelhorns hinuntergekraxelt ist. Sein Mobiltelefon klingelt, es geht um eine Lieferung von Scheinwerfern, die am Hörnligrat installiert werden sollen, 49 gelbe und ein roter für die Absturzstelle. Den Sommer über werden die per Funk gesteuerten Solar-Akku-Lampen abends jeweils zur vollen Stunde für drei Minuten angeschaltet, sodass man im ganzen Tal die Route der Erstbesteiger leuchten sieht. Das passt bildlich zu Perrens Aussage, dass die Geschichte "nach 150 Jahren endlich ins richtige Licht gerückt wird". Zu den Nachfahren der auswärtigen Erstbesteiger hatte er noch keinen Kontakt, aber zum Jubiläum reisen auch Urururenkel von Hadow, Croz und eine Abordnung des British Alpine Club an.

Zermatt: Bergführer Benedikt Perren ist der Urururenkel von Peter Taugwalder, einem der Erstbesteiger.

Bergführer Benedikt Perren ist der Urururenkel von Peter Taugwalder, einem der Erstbesteiger.

(Foto: Markus Kirchgessner/laif)

Benedikt Perren wischt über sein Smartphone, bis er ein bestimmtes Bild gefunden hat, und zeigt es dann ohne Vorwarnung her. Ein grün-weißer Bergstiefel, mutmaßlich aus den 70er-Jahren, aus dem Schaft ragt ein abgebrochener Unterschenkel, der Fuß steckt noch im Schuh. Im Lauf der Jahre haben die Zermatter Bergführer mehr als 20 Kilogramm solcher menschlichen Überreste eingesammelt, an diesem Wochenende sollen diese in einem neu geschaffenen "Grab des unbekannten Bergsteigers" beigesetzt werden. Seit der Erstbesteigung kamen am Matterhorn mehr als 500 Menschen um, der Großteil auf der Schweizer Seite. An keinem anderen Berg der Schweiz sterben so viele Alpinisten. Der 14. Juli, das Datum der Erstbesteigung, ist als "Tag der Stille" geplant. Aus Respekt vor den vielen Toten soll ausnahmsweise niemand den Gipfel betreten.

Der Massenandrang am Hörnligrat führt in der Hochsaison zu Stress, Stau und Steinschlag

Früher dachten die Talbewohner, auf dem Matterhorn wohnen Dämonen, die Steine in die Tiefe werfen, damit niemand wagt, den Gipfel zu besteigen. Dieser Aberglaube hat sich nach 1865 nicht lange gehalten, und heute existiert eher ein umgekehrter Irrglaube: Viele Bergsteiger halten den Gipfel für leicht machbar und wollen ihn erzwingen, obwohl sie dazu körperlich nicht in der Lage sind. "Die Leute haben einen Machbarkeitswahn", sagt Edith Zweifel von Zermatt Tourismus. Der Massenandrang ist das Hauptproblem am Hörnligrat. An Tagen mit guten Verhältnissen probieren bis zu 300 Leute, auf den Gipfel zu gelangen. Die Sommersaison ist kurz, sie dauert je nach Schneeverhältnissen von Anfang Juli bis Mitte September, in dieser Zeit versuchen sich bis zu 3500 Bergsteiger am Matterhorn. Das führt zu Stress, Stau und Steinschlag am Hörnligrat.

Um den Ansturm einzudämmen, wurde die Zahl der Schlafplätze auf der gerade neu eröffneten Hörnlihütte von bisher 170 auf 130 reduziert. Eine Übernachtung im Mehrbettzimmer kostet 150 Franken, ein Zweibettzimmer mit eigener Dusche kann man für 450 Franken buchen. Campen in der Umgebung der Hütte ist verboten, wer es trotzdem tut, muss 5000 Franken Strafe zahlen. Das klingt alles sehr übertrieben, aber in Zermatt sieht man in der Zugangsbeschränkung über den Preis auch eine Chance. "Einerseits, um den Komfort für die Gäste zu erhöhen", sagt Hüttenwirt Kurt Lauber, "andererseits, um den Hörnligrat etwas zu beruhigen."

Ein weiterer Schritt in der gnadenlosen Rundumvermarktung des Matterhorns? "Es kann nicht schaden, den Sommertourismus weiter anzukurbeln", sagt Benedikt Perren. Doch der Hauptpunkt sei die veränderte Perspektive auf die Geschichte, die einer Wiedergutmachung für ganze Taugwalder-Generationen gleichkommt. Es kann wohl keiner mehr beweisen, aber wahrscheinlich ist, dass Edward Whymper sich kurz vor dem Gipfel aus dem Seil losband oder dieses durchschnitt, um als Erster auf dem Gipfel anzukommen, und Bergführer Michel Croz tat es ihm gleich. Im Abstieg wurden dann die beiden dickeren Seile mit dem dünnen Behelfsseil verknotet.

Im Dorfmuseum, das aus mysteriösen Gründen "Zermatlantis" heißt, sind die legendären Seile ausgestellt, mit denen die Erstbesteiger unterwegs waren. Das lächerlich dünne Ersatzseil liegt auf rotem Samt in einer Vitrine. Kürzlich hat man die Zugkraft der Seile gemessen, keines trägt mehr als 300 Kilogramm. Auch das dickere Seil wäre also ziemlich sicher gerissen, als es zum Sturz kam. Letzten Endes hat das dünne Behelfsseil Whymper und den Taugwalders wohl das Leben gerettet. "Wenn das nicht so passiert wäre", sagt David Taugwalder und schaut erst seinen Vater Josef, dann das Matterhorn an, "dann wären wir jetzt nicht hier."

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