Süddeutsche Zeitung

#werwirsind:Sinn, los!

Welthunger bekämpfen, Mode fürs Gemeinwohl: Unternehmen schmücken sich häufig mit einem Versprechen. Aber wehe, das sind nur leere Worte.

Von Thomas Balbierer und Johannes Korsche

In manchen Momenten ergibt plötzlich alles Sinn. Das Puzzleteil, das nach ewigem Friemeln nahtlos passt, die Mathegleichung, die sich wie ein Zauberknoten löst. Ein kurzes Ah! und im Hirn rückt alles an die richtige Stelle - ein Wahnsinnsgefühl. Genau diesen Moment erlebte Kati Ernst vor ein paar Jahren: Als die Berlinerin bei einem Mädelsabend zum ersten Mal von neuartigen Periodenslips aus den USA hörte, wusste sie: Das ist es! Ernst und ihre Freundin Kristine Zellner hatten schon länger die Idee, ein gemeinsames Unternehmen zu starten. Irgendwann. Vielleicht. Was mit Sinn. Dann gründeten sie Ooia.

Die Idee ist simpel, statt Tampons und Binden ziehen Frauen während der Menstruation ein Höschen mit dickerem, saugfähigem Stoff an - auslaufsicher, bequem, wiederverwendbar. Frauen, das war den Freundinnen wichtig, sollten sich mit der Periode wohlfühlen, lange genug sei sie stigmatisiert worden. Ernst und Zellner kündigten ihre gut bezahlten Jobs bei McKinsey und Zalando und machten sich 2018 selbstständig. "Der Markt war riesig und es gab kaum Innovationen", sagt Ernst. "Da war sehr großes Potenzial."

Es war aber nicht nur das Geschäft, das die beiden lockte. Sondern auch die Chance, ein feministisches Unternehmen zu erschaffen, eine "Female Empowerment Company". Dieser Sinn sei genauso wichtig wie der Gewinn, beteuert Ernst. Mit den Slips ermögliche man Frauen, "ihr Leben jeden Tag so zu leben, wie sie das gerne möchten", sagt Zellner. Dazu trägt zum einen das Produkt selbst bei als ökologische Alternative zu Tampons. Aber auch ihr Einsatz gegen die Stigmatisierung der Periode bei Instagram und Podiumsdiskussionen. Den Kundinnen gefällt's. Vor Kurzem bestellten sie das 260.000. Höschen.

Kunden kaufen lieber bei sympathischen Marken

Ooia ist nur ein Beispiel für Unternehmen, die mehr verkaufen als Produkte oder Dienstleistungen: einen moralisch aufgeladenen Sinn, einen Purpose. "Keinen Purpose zu haben, wäre im Moment ein Managementversagen erster Güte", sagt Manfred Schwaiger, Wirtschaftsprofessor an der LMU in München. Er forscht seit 20 Jahren zu Marketing. "Das haben sich die Unternehmen nicht ausgedacht. Das haben ihnen die Konsumenten ins Pflichtenheft geschrieben." Aber besitzen Firmen nicht eh schon einen Sinn: Geld verdienen? Natürlich, sagt Schwaiger, aber das Ansehen einer Firma könne sich positiv auf das Geschäft auswirken. Kunden kauften lieber bei sympathischen Marken.

Deshalb verleihen sich Unternehmen einen Sinnspruch, in den sie ihr Versprechen an die Welt packen. Was ungefähr so klingt: "Breaking Barriers" (Nike), "Health for all, Hunger for none" (Bayer), "Don't be evil" (Google, früher mal). Und wehe, die Kunden haben das Gefühl, das sind nur leere Worte. Dann wird's hässlich, wie zwei junge Männer kürzlich erleben mussten.

Was passiert, wenn Firmen ihrem Purpose nicht gerecht werden, zeigt das Pinky-Glove-Fiasko

Sie hatten in der TV-Show "Die Höhle der Löwen" ein Produkt mit der Enttabuisierung der Periode beworben: Ein pinker Kunststoffhandschuh mit Klebestreifen, der "Pinky Glove", der den Tampon blickdicht und geruchsneutral verschwinden lässt - Prinzip Hundekotbeutel. Nur wollte die Gleichung nicht so aufgehen wie bei Ooia. Im Internet donnerte ein Shitstorm über die Gründer hinweg, es gab Morddrohungen. Der Pinky Glove verschwand vom Markt. Ein Fiasko.

Und ein mahnendes Beispiel für Unternehmen, die sich mit einem Sinn schmücken wollen. Vor allem für Dax-Konzerne, die unter besonderer Beobachtung stehen. Der Onlinehändler Zalando etwa, Jahresumsatz acht Milliarden Euro, müht sich, dem eigenen Anspruch gerecht zu werden. Gar nicht so einfach, bedenkt man, mit welchem Versprechen der Konzern antritt: "Reimagine fashion for the good of all" - Mode fürs Gemeinwohl. Klingt gut, aber was heißt das?

Es ist die Abkehr vom gefeierten Kaufrausch, mit dem Zalando zum Giganten aufstieg. Die klassische Werbung ging jahrelang so: Tür auf, Paketbote da, "Schrei vor Glück" - Hedonismus pur, von Gemeinwohl keine Spur. 2019 schließlich verabschiedete sich Zalando von diesem Erfolgskonzept. Auf einmal spielten die Spots nicht mehr an den Haustüren der "Beglückten". Es tanzten nun Frauen mit Glatze auf der Straße. Darsteller waren nicht mehr "Durchschnittsdeutsche" (weiß, um die 40, normal gut aussehend), sie durften nun auch mal etwas korpulenter oder schwarz sein - mussten es sogar. Zalando versprach Selbstverwirklichung: "Free to be". Man glaube an eine Welt, werbetextete Zalando, in der Menschen die Freiheit haben sollten, sie selbst zu sein. Wow.

Bei Frauen im Vorstand notierte Zalando vor Kurzem noch die Zielgröße "0%"

Der Modehändler setzte also auf Individualität und Diversität, nahm damit die woken Großstadt-Hipster in den Blick. Aber: "Gerade unter jungen Leuten wird sehr genau auf das gesellschaftliche Handeln von Konzernen geachtet", sagt Wirtschaftsprofessor Schwaiger. Und was bei Zalando zu beobachten war, sprach nicht unbedingt für Diversität. Bis 2019 hatte der Geschäftsbericht bei "Frauen im Vorstand" tatsächlich die Zielgröße "0 %" notiert. Inzwischen verspricht Zalando, "ein ausgewogenes Verhältnis von Männern und Frauen im Management". Dem sechsköpfigen Vorstand gehört seit wenigen Wochen die erste Frau an.

Zuletzt änderte sich das Selbstverständnis der Jugend: Fridays for Future wurde zu einer weltweiten Bewegung, die Klimagerechtigkeit fordert. Die Konsumenten verstanden sich nicht mehr nur als Individualisten, sondern als Wertegemeinschaft. Zalando reagierte und wirbt jetzt mit "Your values. Here to stay." Welche values, welche Werte? Entscheide selbst.

Im März legte der Dax-Konzern zudem einen 70-seitigen Nachhaltigkeitsreport vor, der viel verspricht: weniger CO₂-Ausstoß, das Ende von Verpackungen aus Einwegplastik, mehr "nachhaltigere" Produkte. Der ökologische Fußabdruck ist deswegen aber nicht gesunken. Im Gegenteil, zwischen 2017 und 2020 hat sich das CO₂-Volumen, von der Herstellung bis zur Auslieferung, ähnlich zum Umsatz fast verdoppelt: von 2,6 auf 4,5 Millionen Tonnen. Ein Interview über seine Markenidentität lehnte Zalando "aus kapazitären Engpässen" ab.

Der Modegigant zeigt, dass Bewusstsein allein die Welt nicht verbessert. Aber braucht es überhaupt engagierte Konzerne? "Unternehmen haben heute so viel Macht - mehr als Kirchen. Manchmal mehr als die Politik", sagt Kati Ernst von Ooia. Sie klingt sehr überzeugt.

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