Zahnspange:Selbstbewusstsein hinter Gittern

Zahnspange: Haben Sie schon mal versucht, Fenster durch ein Gitter zu putzen?

Haben Sie schon mal versucht, Fenster durch ein Gitter zu putzen?

(Foto: Marc Herold)

Mit Ende 40 noch eine Zahnspange verpasst zu bekommen, ist eine Zumutung. Weil selbstverständliche Dinge wie Essen und Lachen zum Problem werden. Ein Leidensbericht.

Von Violetta Simon

Seit drei Jahren lächle ich auf Fotos mit geschlossenem Mund. Aus Angst, ich könnte sonst Richard Kiel gleichen - dem Mann mit dem furchterregenden Metallgebiss, der in James-Bond-Filmen als "Beißer" berühmt wurde. Ich trage eine Zahnspange. Und finde sie ebenfalls ziemlich furchterregend.

Deshalb halte ich beim Lachen, ja selbst beim Sprechen, immer wieder die Hand vor den Mund, so als hätte ich eine Fahne oder als würden sonst irgendwelche Dinge aus meinem Gesicht fallen. Meine Mitmenschen reagieren trotzdem irritiert. Netterweise klärte mich eine Kollegin auf, dass es nicht an der Spange, sondern an meiner Hand liege. Und dass ich weniger seltsam wirke, wenn ich damit nicht mein halbes Gesicht bedecken würde.

Anfangs hatte ich sogar Bedenken, dass sich mein Mann beim Küssen an dem Ding verletzen könnte. Er versicherte mir bereits mehrfach, dass er sich weder daran schneiden noch darin verheddern würde. Dass es allerdings für ihn einfacher wäre, wenn ich mich nicht jedes Mal danach erkundigen würde.

Das sagt sich so leicht. Mit Ende 40 noch eine Zahnspange verpasst zu bekommen, fühlt sich nicht nur körperlich fremd an. Auch emotional ist man auf so etwas nicht mehr eingestellt. Als hätte man sich endlich mit seinen Falten arrangiert - und plötzlich sind die Pickel aus der Pubertät zurück.

Derzeit sind Zahnbürsten - und ihre Kinder, die Zahnzwischenraumbürstchen - meine treuesten Begleiter. Beim Kieferorthopäden sitze ich zwischen Zehn- und Vierzehnjährigen, deren Mütter sehr auffällig versuchen, mich unauffällig zu beobachten. Ich bin ja vollkommen ihrer Meinung: Zahnspangen gehören bestenfalls auf schiefe, auseinanderstehende Kinderzähne. Nicht auf Gebisse, die sich bereits mit Kronen und Implantaten über Wasser halten.

Meine Yogalehrerin versicherte mir, wie beeindruckt sie davon sei, "dass du dir noch die Zähne machen lässt - in dem Alter!" Zum Glück bezahle ich meine Spange selbst, so dass ich in den wenigen Jahren, die mir noch bleiben, dem Gesundheitssystem nicht auf der Tasche liege. Ich werde auch bestimmt kein künstliches Hüftgelenk in Anspruch nehmen, falls ich mit 60 noch leben sollte - versprochen!

Meine Zahnspange ist übrigens sehr anhänglich. Sie begleitet mich inzwischen seit drei Jahren - erwachsene Zähne lassen sich nicht so einfach verschieben. Am Anfang hieß es: zwei Jahre, höchstens. Mit freudiger Erwartung in der Stimme verkündete mein Kieferorthopäde: "Dann schauen wir mal, was sich getan hat!" Offenbar weniger als erwartet - in letzter Zeit sah er immer etwas müde aus, wenn er sagte: "Sie können den Mund wieder schließen." Und ich hatte ein sehr schlechtes Gewissen, weil meine Zähne sich nicht vorschriftsmäßig drehten. Aber mit etwas Glück werde ich meinen 50. Geburtstag im Dezember ohne Spange feiern.

Paradoxerweise scheinen die meisten Menschen davon auszugehen, ich würde mir diese Tortur aus Eitelkeit antun. Kein Wunder, laut Berufsverband der Deutschen Kieferorthopäden geht der Trend seit Jahren auch bei Erwachsenen zur Spange. Dabei entscheidet sich nur ein Drittel aus kosmetischen Gründen für die Regulierung, schätzt BDK-Vorsitzende Gundi Mindermann. Der Großteil wolle Folgeerscheinungen wie Kopf- oder Rückenschmerzen beseitigen. Oder bessere Voraussetzungen für die Versorgung mit Zahnersatz schaffen.

Wie schön - anscheinend bin ich mit dem Problem nicht alleine. Auch bei mir gab es keine schiefen Zähne zu begradigen, deshalb stand das Thema vier Jahrzehnte nicht zur Debatte. Bis dann eines Tages die bösen Worte "Kieferfehlstellung" und "Kreuzbiss" fielen. Ein Kiefergelenk sei bereits beschädigt, hieß es. In meinen Ohren klang das nach Ruine, nach Trümmerfeld. Jedenfalls grauenvoller als es aussah.

Vier Wochen später befanden sich meine Zähne hinter Gittern - und mein Selbstbewusstsein ebenfalls.

33 000 Minuten Zähneputzen

Bei öffentlicher Nahrungsaufnahme in Gesellschaft kämpfe ich noch immer gegen den Impuls, in Panik auszubrechen. Auf Spinat und Petersilie verzichte ich ohnehin, auch so gibt es genügend, was zwischen Zähnen, Brackets und Bögen hängen bleiben kann. Wenn ich es nicht mehr aushalte, tippe ich meinen Sitznachbarn an und blecke so diskret wie möglich die Zähne - mit der Bitte, zu überprüfen, ob sich in dem Metallzaun vor meinem Gebiss womöglich eine Hühnerkeule verfangen hat.

Nach dem Essen verschwinde ich mit einem Zahnpflege-Set im Bad. Haben Sie mal versucht, durch ein Gitter Fenster zu putzen? Es ist möglich, aber ausgesprochen uneffektiv. Man benötigt diverse Instrumente, das kostet Zeit - in meinem Fall drei Mal täglich zehn Minuten. Ich habe mal grob überschlagen, dass ich bisher etwa 33 000 Minuten mit Zähneputzen verbracht haben muss. Das sind mehr als 550 Stunden am Stück, was etwa 14 Arbeitswochen entspricht. In dieser Zeit schreiben andere Leute Bücher.

Es ist empörend, dass man Kindern so etwas antut. Jedes Mal, wenn man mir neue Bögen oder Gummiketten einsetzt, kann ich vor Schmerzen zwei Tage lang kaum essen. Dazu bohren sich die Enden der Drähte in die Innenseite der Wangen. In einer Informationsbroschüre hieß es nur lapidar: "Während der Behandlung kann es zu Irritationen oder zu leichtem Druckschmerz kommen." Für diesen Euphemismus sollte man dem Verfasser ein besonders fieses Modell mit Außenbogen und Nackenzug verpassen.

Ähnlich wie der Bauch einer Schwangeren animiert das Metallding in meinem Mund andere dazu, mein Aussehen ungefragt zu kommentieren. "Oh, das ist ja niedlich!", stellte kürzlich ein Kollege im überfüllten Aufzug fest, als er mich entdeckte. Und das war sicher genauso nett gemeint, wie es sich anhörte.

Im Gegensatz zu Teenagern wissen Erwachsene nicht - oder nicht mehr -, wie es sich anfühlt, eine Spange zu tragen. Was sie nicht davon abhält, mitzureden. "Das sieht gar nicht schlimm aus!" - "Das macht dich jünger!" - solche Dinge sagen Leute, die keine Zahnspange tragen müssen.

Ich kenne keine Spangenträger in meinem Alter. Der einzige Mensch, von dem ich mich verstanden fühle, ist 13 - ein Freund meines Sohnes. Ich würde fast behaupten, wir sind "Brace-Buddys". Hin und wieder fachsimpeln wir über Brackets und Zahnzwischenraumbürstchen oder helfen uns gegenseitig mit Dentalwachs aus. Als ich kürzlich in meiner Handtasche wühlte und fluchte, dass ich keine Gummis dabei hätte, war ich sehr erleichtert, dass er nicht peinlich berührt kicherte. Sondern zwei unterschiedliche Packungen Elastics zückte und fragte: "Brauchst du A oder D?"

So gesehen habe ich trotz aller Widrigkeiten durch die Zahnspange sogar etwas dazugelernt - was mit Ende 40 durchaus begrüßenswert ist. Erstens: Wir Erwachsenen sollten Kindern mit Zahnspange mit mehr Respekt begegnen. Wäre meine nicht angeschraubt, ich hätte sie längst an einem entfernten Ort vergraben. Und niemand dürfte mich dafür mit Fernsehverbot oder Hausarrest bestrafen.

Zweitens: Es gibt Beziehungen, die machen erst glücklich, wenn sie enden. Mein Kieferorthopäde ist ein wirklich netter Mensch. Wir werden trotzdem beide froh sein, wenn wir uns nicht mehr sehen müssen.

Und schließlich: Es fällt anderen bedeutend leichter, vermeintliche Schwächen zu ignorieren, wenn man es selbst auch tut. Ab sofort lächle ich mit offenem Mund.

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