Süddeutsche Zeitung

Wurst unter Krebsverdacht:Armes deutsches Würstchen

Lesezeit: 2 min

Die Wurst-Warnung der WHO rührt an die Identität der Deutschen. Unser Autor sah die Krise kommen.

Von Oliver Klasen

Es sind gleich zwei Nachrichten, die Deutschland dieser Tage in Aufruhr versetzen. In beiden Fällen geht es um Dinge, die die Nation einst im Innersten zusammenhielten: Fußball und Wurst.

Die erste Enthüllungsmeldung betrifft das Sommermärchen bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2006, das nur zustande gekommen sein soll, weil einige mächtige Männer ziemlich viel Geld hin- und hergeschoben haben. Die zweite Enthüllungsmeldung kommt von der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die bekannt gab, verarbeitetes rotes Fleisch, und das ist eben vor allem Wurst, gelte künftig offiziell als krebserregend.

Der Schutzverband Schwarzwälder Schinkenhersteller in Villingen-Schwenningen, von dessen Existenz man bisher höchstens ahnte, protestiert zwar gegen diese sogenannte Verunsicherung der Verbraucher durch die WHO. Doch auch die Schinken-Lobbyisten können nicht verhindern, dass die Enthüllung am Selbstverständnis, ja an die Identität der Deutschen rührt.

Die heilige Dreifaltigkeit hiesiger Ernährungskultur

Deutsches Bier, deutsches Brot, deutsche Wurst - das war bisher die heilige Dreifaltigkeit hiesiger Ernährungskultur. Auf die Vielfalt dieser Lebensmittel sind die Deutschen stolz. Deutsche Wurst ist nicht einfach Wurst, sondern Thüringer, Jagdwurst, Regensburger, Bockwurst, Blutwurst, Schinkenwurst, Weißwurst, Lyoner, Bregenwurst, Mettwurst, Wiener Würstchen, Gelbwurst, Cervelatwurst, Teewurst - und über diese Auflistung könnten sich jetzt Schutzverbände aus mindestens 43 deutschen Landstrichen beschweren, weil ihre Wurst nicht genannt ist.

In den achtziger Jahren hat die Wurst sogar Eingang in die Popkultur gefunden. "Kommse vonne Schicht, wat schönret gibt et nich als wie Currywurst", sang Herbert Grönemeyer 1982 und füllte damit die Hallen. Ein paar Jahre später war das Lied "Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei" von Spaß-Sänger Gottlieb Wendehals monatelang in den Charts.

Es war die Zeit, als Fleischfachverkäuferinnen auf Gabel aufgespießte, zusammengerollte Gelbwurstscheiben über die Theke reichten und Kinder sie laut schmatzend verspeisten. Bei Kindergeburtstagen gab es die "Minnie-Winnie-Würstchenkette", auf Dorffesten aßen die Menschen Rostbratwürste, in ein halb aufgeschnittenes Brötchen geklemmt, und ein Kanzlerkandidat wie Gerhard Schröder gewann auch dadurch an Sympathie, dass das Gerücht kursierte, er habe seine damalige Frau auch deshalb verlassen, weil sie ihn nicht uneingeschränkt Currywurst essen ließ.

Doch das ist lange her. Langsam und ohne dass die Wurstliebhaber das zunächst bemerkt haben, hat eine Veränderung stattgefunden. In den Städten werden alte Würstchen-Buden ersetzt durch hippe Burgerläden, in denen 24 Stunden bei Niedrigtemperatur gegartes Pulled Pork aus regionaler Bioproduktion auf den Tisch kommt.

Immer mehr Menschen ernähren sich vegan, vegetarisch oder zumindest flexitarisch und Wurst gilt inzwischen als ein krummes, in einen Darm gepresstes Etwas, das neben dem durch den Wolf gedrehten Fleisch noch eine ganze Reihe anderer Inhaltsstoffe hat, die niemand so genau kennt. Lange bevor die WHO die Wurst als krebserregend eingestuft hat, gab es Menschen wie Attila Hildmann, jenen geschäftstüchtigen Fitness-Coach und Autor zahlreicher veganer Kochbücher, der seit Jahren predigt, dass ein Leben ohne tierische Produkte vor Krankheiten bewahre.

Selbst die ARD, sonst nicht gerade bekannt für revolutionäre Visionen, hat die Zeichen der Zeit erkannt. Früher war es Gesetz, dass sich die Kölner Tatort-Kommissare Freddy Schenk und Max Ballauf am Ende jeder Folge auf ein, zwei Kölsch und eine Wurst am Rheinufer in Deutz trafen, die beiden Türme des Doms im Hintergrund. In jüngster Zeit wurden die Fälle düsterer, die Charaktere vielschichtiger und die Regisseure haben die Wurstszene am Ende öfter mal weggelassen, weil sie ihnen zu klischeehaft erschien.

Das 21. Jahrhundert, so viel lässt sich jetzt schon sagen, wird kein Jahrhundert der Wurst werden. Vielleicht müssen Wurstesser ihrem Laster demnächst, so wie Raucher, abgesondert vom vernünftigen, gesundheitsbewussten Rest der Gesellschaft nachgehen, in markierten Wurst-Essbereichen, wie die Satire-Seite Der Postillon voraussagt. Oder zusammengepfercht in speziellen Wurst-Lounges, in denen es penetrant nach Fleischkäse stinkt.

Sollte es so weit kommen, bleibt Ihnen nur zu sagen: Is mir doch wurscht.

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