Kolumne: Meine Leidenschaft:"Da liegt schon der Erste!"

Kolumne: Meine Leidenschaft: Ein Mann in seinem Element: der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil im Wuppertaler Stadion.

Ein Mann in seinem Element: der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil im Wuppertaler Stadion.

(Foto: Mareen Linnartz)

Der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil war als Kind ein Außenseiter, bis ihm Fußball das Gefühl gab, dazuzugehören. Die Liebe zu seinem Verein, dem Wuppertaler SV , hält bis heute.

Von Mareen Linnartz

Es ist die 14. Minute im Spiel des Wuppertaler SV gegen Rot-Weiß Oberhausen. Der Herbsthimmel schimmert matt, die Luft ist kühl und klar, in der Ferne rattert die Schwebebahn. Unten auf dem Rasen wälzt sich ein Spieler der Heimmannschaft. So wie er sich ans Schienbein fasst, scheinen die Schmerzen scheußlich zu sein, ein Umstand, der Hanns-Josef Ortheil, förstergrüne Jacke, Fanschal um den Hals, einigermaßen empört: "Da liegt ja schon der Erste!"

Seit mehr als 50 Jahren ist der Schriftsteller, Autor von Büchern wie "Fermer", "Die Erfindung des Lebens" oder "Der von den Löwen träumte", Fan des WSV, als Jugendlicher hat er als Verteidiger in der Mannschaft gespielt. "Ich war Stopper. Der Typ, der immer hinten in der Verteidigungsreihe stand und die Bälle wegdrosch." Aus seiner Sicht geht es beim heutigen Spiel eigentlich um alles.

Wuppertal hat die vergangenen Spiele verloren, seinen Trainer ausgewechselt und nähert sich den Abstiegsplätzen in der vierten Liga. Und dann spielen sie auch noch gegen Oberhausen! Ortheil schielt nach rechts zu den Fans des Klubs, die gerade ein Banner mit einem Kleeblatt, dem Vereinssymbol, hochhalten, und seufzt: "Lokalrivalen. Wird ein Derby." Also vermutlich ein recht ruppiges Match. Halboptimistisch tippt er auf ein 2:2.

Er verfolgt fast jedes Spiel, zumindest virtuell. Auch im Ausland schaut er auf den Liveticker, er weiß bestens Bescheid über vergangene Transfers und aktuelle Querelen. Das wiederum macht ihn zu einem sehr unterhaltsamen Stadionbegleiter. Er ist keiner, der schimpft, pöbelt, wütet. Er ordnet lieber ein. Einmal verhumpelt die Nummer 20 einen Ball, schon liefert Ortheil die Zusatzinformation: "Der war richtig teuer, ist erst in der vergangenen Saison gekommen." Über den Torwart weiß er zu berichten, dass er vom neuen Trainer aufgestellt worden sei, eine Maßnahme, mit der er nicht ganz einverstanden ist: "Ein ganz Junger, finde ich riskant." Auffallend ist, wie sehr er sich freut, wenn Spieler pfeilschnell sind und ihre Gegenspieler versetzen. "Wunderbar" oder "Der ist einfach sagenhaft schnell!" ruft er dann. Dazu macht er mit der rechten Hand eine kameltreiberhafte, kurbelnde Bewegung. In der 29. Minute springt er auf, reißt die Arme in die Höhe: 1:0 für Wuppertal.

Kolumne: Meine Leidenschaft: Spiel des Wuppertaler SV im Stadion am Zoo - der Tierpark grenzt direkt an.

Spiel des Wuppertaler SV im Stadion am Zoo - der Tierpark grenzt direkt an.

(Foto: Mareen Linnartz)

Hanns-Josef Ortheil, vielleicht muss man das an dieser Stelle einmal erwähnen, liebt den Fußball nicht generell. Als Sport findet er ihn langweilig, im Gegensatz zu Tennis, das er stundenlang im Fernsehen anschauen kann. Ginge es nach ihm, müsste man sofort die Abseitsregel abschaffen, er verspricht sich davon mehr Spannung und "Handballergebnisse". Er wird kein Spiel der Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft anschauen, hat er früher schon nicht, wird er jetzt in Katar erst recht nicht. Was Hanns-Josef Ortheil liebt, ist der Wuppertaler SV an sich. Der Verein. Es ist eine bedingungslose Liebe und eine, die ihn bis heute wärmt.

Ortheil war in der Grundschule, als er mit seinen Eltern von Köln nach Wuppertal zog, sein Vater war als Bundesbahningenieur dorthin versetzt worden. Fußball spielte er mit den anderen Kindern auf dem "Freudenberg", dem Trainingsgelände des WSV, und später mit der Jugendmannschaft im Stadion. An den Wochenenden feuerte er die erste Mannschaft an, wartete am Gatter auf ein Autogramm der Spieler. Und vielleicht ist das der Zauber, der dem Fußball bis heute trotz aller Kommerzialisierung und Korruption nicht zu nehmen ist: Es ist ein Spiel, bei dem jeder sofort mitmachen kann. Ein Ball, ein paar Leute, los geht's. Ortheil profitierte davon in besonderem Maße. Hier in Wuppertal war er lediglich der Neue, einer, von dem man nicht wusste, was er hinter sich gelassen hatte. Hier im Bergischen Land konnte er zum ersten Mal in seinem Leben, sagt er, "problemlos mit anderen Kindern" spielen.

Ortheil ist der fünfte Sohn seiner Eltern. Und der erste, der überlebte. Zwei seiner älteren Brüder starben als Kleinkinder während des Zweiten Weltkriegs, zwei weitere kamen tot auf die Welt. Seine Mutter überschwemmte ihn mit Liebe, wich kaum von seiner Seite, aber sie sprach nicht, ihre Erlebnisse hatten sie verstummen lassen. Bei einer früheren Begegnung hatte Ortheil einem erzählt, wie seine Mutter in Geschäften wortlos den Verkäufern ihren Einkaufszettel gab und er danebenstand, das genauso schweigsame Kind. Er wurde zum Einzelgänger, die Schule machte ihm zu schaffen, er versank in seine Klaviermusik. Fast wäre der Schriftsteller, der mehr als 70 Bücher geschrieben hat und vielfach ausgezeichnet wurde, Pianist geworden. Wegen einer Sehnenscheidenentzündung musste er seine Ausbildung abbrechen.

Fährt er heute mit der Schwebebahn zum Stadion am Zoo, schlägt sein Herz höher, setzen die Erinnerungen ein, es ist so lange her und dann doch wieder nicht. Es fühle sich dann an, als reise er "in eine andere, frühere Welt". Der 71-Jährige sitzt an diesem Nachmittag auf der Haupttribüne, Block O, Reihe 29, Platz 17. Halbzeitpause. Mit einer Art riesiger Gabel wird der Rasen von einem Mitarbeiter ein wenig aufgelockert, an irgendeinen Patrick richtet der Stadionsprecher Geburtstagsgrüße aus, und am Pausenstand gibt es Frikadellen, Grillwürste und Krakauer zwischen drei und vier Euro. In "Die weißen Inseln der Zeit" erinnert sich der Schriftsteller an seine ersten Stadionbesuche, an "die steilen Stehplatzränge, das seitlich einfallende Sonnenlicht, den schwachen Geruch von Bratwurst, Zigaretten und Bier, die wehenden Fahnen, die Spieler des WSV, an dessen Auf und Ab ich so hing, als wären es psychische Schwankungen einer geliebten Person".

Als Kind hörte er Elefanten trompeten, aus dem nahe gelegenen Zoo

Ortheil kneift die Augen zusammen und schaut in die Ferne auf goldrot leuchtende Bäume. Da hinten liegt der große Zoo. Da sind sie wieder, die Erinnerungen: "Als ich ein Kind war, hörte ich manchmal von dort die Elefanten trompeten." Ein Geräusch, das ihn keinesfalls beruhigte, denn die Tiere klangen, als "wären sie in Panik". Die wummernden Gesänge, die Anfeuerungsrufe, wahnsinnig laut war es ja noch damals, in den 1960er-Jahren auf den Rängen. "Hömma, lauf doch!" "Schiri! Pfeif ab!" "He, Abseits!" Der Wuppertaler SV spielte hochklassig, hatte rustikale Stars wie Horst "Schimmi" Szymaniak, der acht Jahre in einer Zeche gearbeitet hatte. Vor dem WM-Halbfinale 1958 sah er König Gustav VI. Adolf beim Handschlag in die Augen und verweigerte den üblichen Diener, was er mit einem Bergmannspruch begründete: "Kein Kniefall, auch nicht vor gekrönten Häuptern."

Es war die Ära der stolzen Reviervereine, Schalke 04, Westfalia Herne, Borussia Dortmund und, ja, eben auch: der Wuppertaler SV. Mag die Welt im Pott werktags düster und dunkel erschienen sein - die rauchenden Schlote, die Maloche unter Tage, die ätzende Luft - am Wochenende wirkte sie ein wenig heller. Es war die Zeit einer nun längst vergangenen BRD, mit ihren Sehnsüchten und dem Hang zum Selbstbetrug, zu dem gehörte, nach vorne zu schauen und ja nicht zurück. Spätestens seit Deutschland 1954 Fußballweltmeister wurde und man wieder wer war. Die Stadien waren voll, auch das in Wuppertal am Zoo, in das rund 25 000 Zuschauer passen.

Heute, verkündet der Stadionsprecher irgendwann in der zweiten Halbzeit, sind gerade mal 2150 gekommen. Das Spiel dümpelt so vor sich hin, was dem älteren Fan auf der Haupttribüne gar nicht behagt. Weiterhin steht es 1:0, Ortheil findet es zunehmend "unangenehm" hier. Er rutscht auf seinem Stuhl hin und her, wirkt nervös und lässt sich erst mit dem Abpfiff erleichtert nach hinten fallen. Er wird heute noch in sein Elternhaus im Westerwald fahren. Wuppertal ist schon lange nicht mehr seine Heimat. Die Schwebebahn schaukelt auf dem Heimweg über die Wupper, Fans besingen den Sieg, es geht vorbei an den Chemieanlagen von Bayer. Früher, sagt Ortheil, während er hinab auf die Wupper blickt, habe man den Fluss "riechen" können, so viele stinkende Abflüsse wurden hineingeleitet. "Die Wupper habe ich noch in Farbe gesehen." Er läuft zum Bahnhof, vorbei an dem Gebäude der Bundesbahndirektion, in der sein Vater gearbeitet hat, dahinter das humanistische Gymnasium, in dem er vor vielen Jahren Schüler war. Er läuft vorbei an einer Vergangenheit, die für ihn nie ganz vergangen ist.

Keine Leidenschaft ohne Zubehör. Diese Gegenstände hat Hanns-Josef Ortheil bei seinem Besuch im Fußballstadion immer dabei:

Das Fanzine

Kolumne: Meine Leidenschaft: Mit dem Stadionmagazin ist Ortheil bestens informiert über die Vorgänge beim Wuppertaler SV.

Mit dem Stadionmagazin ist Ortheil bestens informiert über die Vorgänge beim Wuppertaler SV.

(Foto: Mareen Linnartz)

"Für den Fan ist das Stadionmagazin des WSV Pflicht - das Programmheft fürs Spiel! Der Titel 'neunzehn54' bezieht sich auf das Gründungsjahr des Vereins: Der SSV 04 Wuppertal und der TSG Vohwinkel 80 schlossen sich damals zusammen. 1954 ist natürlich ein bedeutsames Jahr: Deutschland wurde Fußballweltmeister. Ich war noch sehr klein, aber ich erinnere mich gut daran, dass damals jeder Junge kicken wollte."

Der Schal

Kolumne: Meine Leidenschaft: Seit 1954 gibt es den Wuppertaler SV, eine Fusion aus zwei kleineren Vereinen. Wenige Jahre später wurde Ortheil Mitglied.

Seit 1954 gibt es den Wuppertaler SV, eine Fusion aus zwei kleineren Vereinen. Wenige Jahre später wurde Ortheil Mitglied.

(Foto: Mareen Linnartz)

"Ich weiß gar nicht, wie lange ich den Schal schon habe. Sehr lange. Ich trage ihn bei jedem Spiel. Fan zu sein, ist für mich eine Form von diskreter Liebe. Wuppertal selbst habe ich als streng, protestantisch geprägt und wenig freudvoll empfunden. Seltsam pastoral, die Stadt von Johannes Rau. Es ging viel um Leistung, Leistung, Leistung, und alle waren sehr ernst. Am humanistischen Gymnasium lernte ich Latein, Altgriechisch und Hebräisch. Aber am Wochenende, im Stadion, da fühlte ich mich befreit. Da sang ich mit den Freunden und war glücklich, wenn unsere Mannschaft gewann."

Die Gummibärchen

Kolumne: Meine Leidenschaft: Wer nervös ist, braucht was zum Naschen. Am besten passen da natürlich "Wuppertaler Schwebis".

Wer nervös ist, braucht was zum Naschen. Am besten passen da natürlich "Wuppertaler Schwebis".

(Foto: Mareen Linnartz)

"Die kleinen Wuppertaler Schwebis aus Weingummi gibt es exklusiv in der Touristik direkt vor dem Hauptbahnhof. Ich nehme immer eine Tüte auf die Schwebebahnfahrt mit, und jedes Mal überlege ich, wann ich sie wohl öffnen sollte. Als Trost nach einem verlorenen Spiel - oder bereits vor einer Partie, um die Niederlage in Gedanken von vornherein auszuschließen? Das sind typische Gewissensfragen eines leicht durchgedrehten Fans."

Schwimmen mit Ulrike Folkerts, Krimskrams sammeln mit Johann Lafer, Motorrad streicheln mit Matthias Reim: Weitere Folgen von "Meine Leidenschaft" finden Sie hier.

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