Ein bisschen ein schlechtes Gewissen hat man nun doch, schließlich sieht Wolf D. Prix etwas erledigt aus. Angesichts der 34 Grad, die Wien an diesem Sommertag niederbügeln, wirkt der 81-jährige Architekt in seinem dunkelblauen Anzug und den verstrubbelten Haaren zwar immer noch wacher als so mancher Vertreter der Interrail-Jugend, die in der Stadt der Kaffeehäuser an den Strohhalmen ihres Bubble Tea zuzeln. Aber Prix ist halt auch der Verfasser von so energetisch aufgeladenen Manifesten wie „Architektur muss brennen!“ und mit seinem Büro Coop Himmelb(l)au hat er spektakulär rasante Gebäude wie die BMW-Welt in München gebaut. Bei einem solchen Menschen fällt es schon auf, wenn die Drehzahl nur etwas langsamer ist.
Außerdem hatte seine Assistentin angerufen und gefragt, ob man den Termin vielleicht verschieben könnte. Weil man da selbst schon fast im Zug von München nach Wien saß und zudem als Kritikerin die Erfahrung gemacht hat, dass bei der Spezies Stararchitekt, zu der Prix so unbestritten gehört wie Rem Koolhaas oder Jean Nouvel, sich eine gewisse Langmut auszahlt, meinte man, man fahre trotzdem, auf gut Glück. Doch dann rollte das schlechte Gewissen heran. Als man deswegen ein weiteres Mal mit der Assistentin telefonierte – nun schon längst im 34 Grad hundstagetoten Wien – hieß es, dass Wolf D. Prix das Treffen unbedingt stattfinden lassen möchte. Was diesen Mann so dringend in den saalgroßen Besprechungsraum von Coop Himmelb(l)au im fünften Bezirk gezogen hat? Seine Leidenschaft für Keith Richards natürlich.
„Keith Richards, des is mein Liebling!“, sagt Wolf Prix im feinsten Wienerisch, wölbt sich mit seinem langen Oberkörper kokett über den Tisch und deutet mit dem schlanken Zeigefinger elegant auf Keith Richards, der auf dem Bildschirm des aufgeklappten Laptops gerade einen ordentlichen Schluck aus der Weinflasche nimmt. Prix nippt an seinem Glas mit stillem Wasser und lächelt so selig, wie man es dem Provokateur der Baukunst nie zugetraut hätte. Was dieser Mann sich schon gestritten hat, auf der Bühne, im Interview, mit seinen Kollegen.
Zum Beispiel, ob es wirklich eine gute Idee ist, sich an dem „Größer, weiter, höher“-Projekt der Regierung Saudi-Arabiens zu beteiligen. Auf einer schnurgeraden Linie wollen die Saudis die Stadt „Neom“ über alle Hindernisse hinweg errichten lassen. Fairerweise muss man dazu sagen, dass ein Großteil der Stararchitekten-Klasse dabei mitmacht. Außerdem wurden die hellblauen Modelle für „Neom“ zumindest im Besprechungsraum von Coop Himmelb(l)au so tief in die hinterletzte Ecke geschoben, dass es wirkt, als wäre man sich hier nicht mehr so ganz sicher, was aus dem Gigantomanie-Plan überhaupt wird.
Zurück zu Keith: „Der spielt mit dem Körper“, sagt Prix mit einer Sanftheit in der Stimme, als wollte er den schlaksigen Richards im Video aus dem Jahr 1971 gleich mit einer Mohairdecke umwickeln. Wobei sich der Rhythmusgitarrist und Songwriter der Rolling Stones in diesem Moment tatsächlich überhaupt nicht rührt, sondern stattdessen nahezu bewegungslos verharrt, während er die Griffe zu „Midnight Rambler“ ausführt. Als man das anmerkt, schallt es: „Warten Sie nur!“, und tatsächlich: Im nächsten Moment biegt Richards gleichzeitig Oberkörper und Füße mit einer Drehung zu einem derart perfekten Halbkreis, dass „das Mensch gewordene Riff“, wie die FAZ Keith Richards mal bezeichnete, auch den Titel des „Mensch gewordenen Cs“ verdienen würde.
Als er „Midnight Rambler“ in voller Lautstärke hören will, gibt es einen Stromausfall
Der Architekt kennt jedes einzelne Riff, mit dem der Gitarrist die Songs nicht nur vorantreibt, sondern auch in die Gehörgänge seiner Zuhörer tätowiert, und zwar egal, ob man seit den frühen Sechzigerjahren Fan ist, wie der Architekt, oder nicht, wie sein Gegenüber. Was prompt Prix’ pädagogischen Ehrgeiz weckt und das, obwohl er Musik nicht erklären könne. Aber zusammen hören. Eigentlich wollte man das ja über die Soundanlage des Büros. Stilecht in voller Lautstärke, so wie der Architekt das früher zusammen mit Helmut Swiczinsky und Michael Holzer „dauernd“ in ihrem Atelier im dritten Bezirk gemacht hat, wo die drei Architekten 1968 Coop Himmelb(l)au gegründet haben. Oder wie Prix es heute noch tut, wenn er allein im Auto fährt und keines der Kinder protestieren kann, weil sie die Musik der Stones nämlich „altertümlich“ finden. Aber als der junge Mitarbeiter die Technik einrichten will, gibt es ein „Zupp“ und nicht nur der silberne Deckenventilator und die Klimaanlage stehen still, sondern auch der Beamer. Stromausfall. Nichts, was den Architekten und Dirigenten von Großprojekten aus der Fassung bringen würde. Die Lautsprecher im Laptop tun es auch.
Unmittelbar beim Erklingen des Intros von „Midnight Rambler“ wechseln sich „Fantastisch!“ und „Gleich!“ als Kommentar von Prix rhythmisch ab. Der Architekt strahlt, gedanklich zupft er jedes Riff mit. Ein-, zweimal meint man, die Luftgitarre in seinen Händen zu erkennen. „Baustoff der Zukunft“, schwärmt er und wirkt plötzlich zehn Jahre jünger.
Ungefähr so lange ist es auch her, dass Wolf D. Prix das letzte Mal eine Gitarre zur Hand genommen hat. Früher muss er viel gespielt haben. Im Atelier im dritten Bezirk zum Beispiel, „wenn es zu fad war“. Was in den Anfangsjahren oft der Fall gewesen sein dürfte, die Aufträge waren damals rar. Kein Wunder, das Architekten-Trio entwarf eher etwas, was nach Kunst-Performance aussah. Ihre Idee: „Architektur mit Fantasie leicht und veränderbar wie Wolken zu machen.“ Deswegen der Name Coop Himmelb(l)au. So schwebend das klingt, so wenig realisierbar muss es für potenzielle Bauherren gewirkt haben.
Das zeigt sich auch in Prix’ Musikgeschmack: „Ich war von den Stones irrsinnig fasziniert, weil sie gegen den Strom schwammen und dadurch neue Dinge entstanden. Wie in der Evolution.“ Fast 60 Jahre später wird klar, dass mindestens so sehr wie den Architekten die Dynamik dieser Band von Anfang an begeistert hat, es auch das „Gegen-den-Trend-Sein“ war.
Es gab eine Zeit, da wollte Prix selbst Rockmusiker werden
Wobei: Das erste Konzert, das Wolf D. Prix von den Rolling Stones besuchte – „muss 1964 oder 1965 gewesen sein, danach kamen noch sehr viele“ -, fand in Wien bereits in der Stadthalle statt. Keine Kellerbar also, sondern ein großer und etablierter Veranstaltungsort. Prix streckte damals der Band das Plakat „Die TU Wien grüßt die Rolling Stones“ aus dem Publikum entgegen. Ob sein Idol damit etwas anfangen konnte? Prix zuckt ungerührt mit den Schultern, nur um im nächsten Moment mit der Anekdote zu kontern, dass er den Stones im Anschluss des Konzerts persönlich begegnet sei. „Ich habe Keith und Jagger in der einzigen Wohnung getroffen, wo es in Wien damals Hasch gegeben hat.“ Mick Jagger sei von Frauen umgeben gewesen. Keith Richards – „mit so großen Ohren“, Prix formt gigantisch große Ohrmuschel an den eigenen Kopf – ganz allein. Sehr höflich sei der gewesen.
Es gab sogar eine Zeit, da wollte Prix mehr sein als nur Fan. „Rockmusiker“ lautete sein Berufswunsch. Doch: „Bei einem Solo von ‚Walking The Dog‘ bin ich jämmerlich gescheitert.“ Das war’s dann mit dem Karriereplan – den später Prix’ Sohn übernahm, der tatsächlich Musiker wurde, genauso wie die Gitarren vom Vater. Doch Keith Richards blieb Vorbild, dessen Solos sind nach wie vor taktgebend für die treibende Dynamik im Büro. Wer heute bei Coop Himmelb(l)au anruft und in der Warteschleife landet, darf sich immer noch das Intro von „Gimme Shelter“ anhören. „Unsre Hymne“, wie Prix den Song nennt. Bei ihrer Aktion „Flammenflügel“ an der TU Graz wollten Swiczinsky und er im Jahr 1980 noch mal „Sympathy For The Devil“ mit der Gitarre nachspielen, Prix grinst nun breit. „Da musst du genauso lang üben wie in der Architektur.“ Ein Meister erkennt eben andere Meister.
Keine Leidenschaft ohne Utensilien! Diese drei Gegenstände braucht Wolf D. Prix für seine Begeisterung für Keith Richards:
Die Platten
„Die Riffs von Keith Richards und seine Spielweise haben mich so begeistert, weil er die Spannungsbögen in der Musik aufbaut, die wir auch in der Konstruktion haben. Keith kann den Rhythmus bestimmen und aus dem Fundament eine Dynamik entwickeln. Das Intro von ‚Gimme Shelter‘, das auf der Platte ‚Let It Bleed‘ ist, wollten wir mal in Architektur übersetzen, und zwar beim Erweiterungsbau des Rock’n’Roll-Museums in den USA.“
Die Gitarre
„Diese Gitarre ist eine nachgebaute Gibson, die ein berühmter Rock’n’Roll-Musiker aus Linz mir verkauft hat. Keith spielt in manchen Songs eine offen gestimmte Gitarre ohne tiefe E-Saite. Das macht den Sound der Band so unverwechselbar. Ich habe versucht, das nachzuspielen. Dafür hörte ich die Platten, die mit 45 Umdrehungen pro Minute abzuspielen waren, mit 33 Umdrehungen ab.“
Die Zigarre
„Die Zigarre brauche ich, damit ich wach bleibe. Ich rauche nur zwei kubanische Sorten: die revolutionäre Montecristo oder die Regierungszigarre Cohiba.“
Bohnensalat zubereiten mit Jan Delay, Schallplatten hören mit Léa Linster, Kunst machen mit Wolfgang Niedecken, Bootfahren mit Volkwin Marg: Weitere Folgen von „Meine Leidenschaft“ finden Sie hier.