Süddeutsche Zeitung

Wohnungsnot:17 Quadratmeter

Lesezeit: 3 min

Zu wenig Platz, zu hohe Mieten: Viele Familien in Deutschland finden keine Wohnung und leben in Notunterkünften. Hier erzählt die elfjährige Maria, wie sich das anfühlt.

Von Vincent Suppé

Manchmal will Maria einfach nur die Tür zu ihrem Zimmer zuhauen. So laut, dass es knallt. Zum Beispiel, wenn ihr kleiner Bruder einfach so das Fernsehprogramm umschaltet. Und dann die Fernbedienung nicht rausrücken will. Oder wenn sein Lego wieder herumliegt und Maria auf einen der spitzen Steine tritt.

Das Problem: Maria hat kein eigenes Zimmer. Und auch ihr Bruder Toni und ihre Mutter nicht. Alle drei wohnen zusammen in einem Zimmer, 17 Quadratmeter - kleiner als das Fußballtor von Manuel Neuer.

Küche, Schlafzimmer, Wohnzimmer und Kinderzimmer zusammen: Für Maria und ihren Bruder Toni findet das Familienleben in einem einzigen Raum statt.

Die Tür ist Marias Verbindung zur Außenwelt: Weil es dort nach draußen geht und weil nur dort das WLAN-Signal stark genug ist.

Winnie Puuh, der Zweite. Sein Vorgänger ist im Bus verloren gegangen.

Marias Familie teilt sich ein Zimmer, weil sie keine eigene Wohnung hat. Fast einer Million Menschen in Deutschland geht das so, darunter vielen Familien mit Kindern. Oft, weil sie die Mieten einfach nicht mehr zahlen können und ausziehen müssen.

Damit diese Menschen nicht auf der Straße leben müssen, gibt es sogenannte Notunterkünfte. Dort sieht es ein bisschen aus wie im Schullandheim: ein Pförtner am Eingang, lange Gänge und viele Zimmer mit Doppelstockbetten. Nur fährt man nach einer Woche nicht wieder nach Hause. Familien wie die von Maria wohnen dort so lange, bis sie eine eigene Wohnung finden. Manchmal dauert das ein paar Wochen, viele leben aber auch jahrelang im selben Zimmer.

"Ich bin jetzt seit einem Jahr hier und hab keinen Bock mehr. Es nervt einfach." Maria würde gerne die Wände bunt streichen, wie in einem richtigen Kinderzimmer. Darf sie aber nicht. Es ist ja auch kein richtiges Kinderzimmer. Da ist ein Kühlschrank und ein Backofen - Küche und Kinderzimmer sind ein Raum. Wenn Maria ihre Schultasche neben dem Esstisch stehen lässt, kommt man nicht mehr ins Bad.

Trotzdem lässt sich Maria nicht unterkriegen: Mehr als 120 Kinder leben in dem Haus, aber sie ist die Einzige, die aufs Gymnasium geht. In der Schule weiß niemand, wo und wie Maria wohnt. Deshalb steht in diesem Text auch nicht ihr echter Name, denn sie will nicht erkannt werden. Es ist ihr wichtig dazuzugehören. Sie hat dieselbe Tasche wie alle anderen. Ein Fahrrad. Ein eigenes Handy. Nur eben keine Wohnung. Einmal wollte eine Freundin Maria zu Hause besuchen. "Da hab ich gesagt: Geht nicht, weil wir Besuch haben - dabei hat das gar nicht gestimmt."

Alles, was Maria gehört, passt in eine Kommode. Im Hochbett schläft Maria oben, ihr Bruder unten und die Mutter auf einer Matratze am Boden. Wenn sie die Leiter hochklettert, wackelt der Tisch daneben. Darum liegt immer eine Serviette bereit, falls mal ein Glas umkippt.

Nach der Schule fährt Maria meist alleine nach Hause. Schnell Hausaufgaben machen, sonst wird's eng. Eine Stunde später kommen ihr Bruder Toni und die Mutter nach Hause. Seit er in der Grundschule ist, muss auch Toni Hausaufgaben machen. Der Tisch ist aber gerade groß genug für ein Heft und ein Buch. Beim Lernen müssen sich Maria und Toni abwechseln.

Maria träumt vom eigenen Zimmer. "Am meisten freue ich mich auf die Ruhe. Jetzt sind wir oft zu dritt in einem Raum." Da ist es eigentlich immer laut: der Fernseher, die Mutter am Telefon, die Nachbarn, die auf dem Flur telefonieren, oder Toni, der mit Lego und Winnie Puuh spielt, seinem Lieblingskuscheltier.

Wenn sie für sich sein will, lehnt sich Maria innen an die Wohnungstür. Kopfhörer auf und woanders hindenken. Nur an der Tür hat sie Wlan. Deshalb sitzt sie dort, wenn sie mit ihren Freunden auf Whatsapp chattet oder Youtube schaut.

Bald wird Maria zwölf. Wo sie ihren Geburtstag feiert, weiß sie noch nicht - zu Hause geht ja nicht. Einmal war sie zum Grillen am See. Oder vielleicht ins Kino? Irgendwie findet Maria immer eine Lösung. Darin ist sie gut: Nach der Schule macht sie alleine Hausaufgaben, ihre Noten sind top. Wenn ihre Mutter nicht weiterweiß, füllt Maria auch mal Formulare aus. Wie alle Schwestern streitet sie sich mit ihrem Bruder - wie neulich, als sie Tonis Winnie Puuh im Bus vergessen hatte. Trotzdem hält die Familie zusammen. Dann sind die Legokisten im Badezimmer egal und auch, dass Maria "Tivi" statt "Shopping Queen" schauen muss. Denn eines weiß sie sicher: "Irgendwann wird am Klingelschild nur unser Name stehen."

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SZ vom 30.03.2019
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