Wohnprojekt in Wien:Ein Heim für Obdachlose und Studenten

Anwohner und Behörden wehrten sich gegen ein Notquartier für Obdachlose - bis Studenten hinzukamen: Architekt Alexander Hagner hat in Wien ein Haus entwickelt, in dem beide Gruppen zusammenleben. Ein Beispiel, wie Gemeinschaft gelingt.

Von Laura Weissmüller, Wien

Nur die Sache mit dem Fußabstreifer stört noch. 1,4 Quadratmeter ist die Matte groß. Wenn Alexander Hagner den Streit mit der Wiener Stadtbaubehörde gewinnt, wird die Hälfte davon auf dem Trottoir liegen, die andere im Lokal.

Eine Lappalie? Nicht für den Architekten Hagner und vor allem nicht für VinziRast-mittendrin, ein Wohnprojekt, das zu den spannendsten gehört, die es derzeit überhaupt gibt. Denn hier leben seit gut einem Jahr Studenten und ehemals Obdachlose zusammen, Zimmer an Zimmer, in gemischten Dreier-WGs.

Wie das gelingt, das zeigt dieses umgebaute Biedermeierhaus. Es zeigt aber auch, wie Architektur helfen kann, Konflikte zu lösen. Ganz praktisch. Und dabei eine Urbanität zulässt, die wir in Zeiten von durchgentrifizierten Stadtvierteln kaum mehr kennen. Zumindest nicht hier, in bester Innenstadtlage, wo egal ob in München, Zürich, Hamburg oder in Wien eigentlich nur noch cremefarbene Hochpreisburgen hochgezogen werden für eine Klientel, die so homogen ist, als käme sie aus der Retorte. Bei solchen Häusern hört die Offenheit am Gehsteig auf, in diesem Projekt fängt sie genau dort an.

Grenzen auflösen, Schwellen abbauen

Deswegen ist Hagner, 51 Jahre, eigentlich aus Stuttgart, aber schon so lange in Wien, dass seine Sprache die ortstypische Moll-Färbung besitzt, der Fußabstreifer auch so wichtig. Denn das Lokal im Erdgeschoss des dreistöckigen Hauses ist Bindeglied zwischen drinnen und draußen. Das ganze Gebäude hilft bei der Vermittlung. Denn es schiebt sich forsch mehrere Meter auf den Bürgersteig.

Der kürzeste Weg vorbei führt da mitten durch das Lokal. Das ist ganz im Sinne des Projekts: "Es geht hier darum, die Trennung zwischen der Gesellschaft und den Obdachlosen aufzuheben ", sagt Hagner. Grenzen auflösen, Schwellen abbauen, das ist hier das Ziel.

Vor zwölf Jahren fühlte diese der Architekt noch selbst. Er hatte sich entschlossen, eine Unterkunft für Obdachlose zu entwerfen. Für Menschen also, die in keinen repräsentativen Daten auftauchen, nur in Schätzungen. Die aber durch die aktuelle Wohnungsnot in den Großstädten immer mehr werden.

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe geht von gut einer Viertelmillion Menschen aus, die in Deutschland obdach- oder wohnungslos ist. Tendenz steigend. Zwar gibt es in allen Städten Heime, doch vielfach können Obdachlose das Angebot nicht annehmen. Weil sie einen Partner haben oder einen Hund. Weil sie zu viel Gepäck mit sich herumtragen oder einfach zu viel trinken. Nicht die Zahl der Unterkunftsplätze sei das Problem, sondern deren enges Spektrum, sagt Hagner heute.

Beim ersten Besuch eines Notquartierts fühlte sich Wagner wie ein Voyeur

2002 wollte der Architekt die Gruft besuchen, ein Notquartier in der Mariahilfer Straße, der Konsummeile Wiens. Hagner hat es beim ersten Mal nicht geschafft, er fühlte sich wie ein Voyeur. Danach stand für ihn fest: "Wenn wir jemals so etwas bauen, darf es keine Schwelle geben."

Die gibt es heute im Lokal tatsächlich nicht, zur Mittagszeit ist jeder Tisch besetzt. Anzugträger ordern ihr Business Lunch. Frauen diskutieren bei einer Tasse Kaffee. Große Fensterdurchbrüche öffnen den Blick auf die Straße. Doch was den hohen Raum geradezu strahlen lässt, sind die hellen Brettchen, die komplett die Wand bedecken.

Manche sind breiter, andere schmaler. Viele ziert ein Aufdruck, hier eine Orange, dort eine Tomate - die Verkleidung besteht aus Tausenden von Holzkistchen. Per Hand zerlegt, per Hand an die Wand getackert. Für Hagner ist sie " ein Abbild unserer Gesellschaft. Als einzelner bist du nichts. In der Gemeinschaft entsteht etwas völlig Neues".

"Mir gefällt's gut", sagt der Bewohner Herbert, 58, in seiner schwarze Kochuniform mit den weißen Knöpfen, während er vor seinem Feierabendbier im Gastgarten sitzt. Früher lebte er auf der Donauinsel, seit knapp einem Jahr nun im Haus, wo er im Lokal als Koch arbeitet.

Er mag die Zusammensetzung der WGs. "Das ist ein angenehm bunter Haufen. Die Studenten sind sehr offen, da wird kein Unterschied gemacht." Auch nicht am Monatsende. Jeder zahlt gleich, abhängig von der Zimmergröße 280 bis 350 Euro. "Bringst du dich in die Gemeinschaft ein, bekommst du den nötigen Respekt", sagt Herbert. Von vielen Neubauprojekten in deutschen Innenstädten kann man das nicht behaupten.

Gemeinsamer Protest

Was das Restaurant auf den ersten Blick wie ein Szenelokal aussehen lässt, ist das Grundkonzept für das ganze Haus: ein klarer, fast kühl nüchterner Architekturentwurf von Hagner und seiner Büropartnerin bei gaupenraub, Ulrike Schartner, der Spielraum lässt für Eigenarbeit und günstige, vielfach geschenkte Materialien, ohne dass der Gesamteindruck windschief oder zusammengestückelt aussieht. Dieser Ansatz ist auch der Grund, warum die Kosten des Projekts sich nicht beziffern lassen. Eine Stiftung sponsorte das Haus, überall waren die eigenen Hände am Werk.

Mit denen fing das Projekt an. Im Winter 2009 war das, als die Studenten vor Wut über die Beschränkung des Hochschulzugangs das Audimax besetzten und bald Gesellschaft bekamen. Von Obdachlosen. Erst drohte die Stimmung zu kippen, dann entschied man sich zusammenzuarbeiten. Malte Plakate, kochte Kaffee, verteilte Handzettel. Irgendwann löste sich der Streik auf, die neue Protestgruppe nicht. Damit kam Hagner ins Spiel.

Eine Botschaft gegen Monokultur

Das Haus im 9. Bezirk schien der perfekte Ort zu sein. Es stand schon seit Jahren leer, weil es aufgrund von strengen Bauauflagen für Investoren nicht lukrativ ist. Außerdem liegt es, wie der Name schon sagt, mittendrin in der Stadt.

Als die Gruppe an dem Konzept arbeitete, gab es in Prag den Plan, alle Obdachlosen in ein Zentrum am Stadtrand zu verbannen. Allerorts gibt es solche Versuche, Randgruppen möglichst unsichtbar zu machen, rauszukehren. Das Haus in Wien sollte ein Statement gegen diese Politik sein: "Wir haben das nicht nur gemacht, um 30 Menschen Obdach zu geben, sondern um eine Botschaft gegen die Monokultur in der Stadt zu liefern."

Von behindernden Gesetzen bis zu Morddrohungen

Viele Anwohner, aber auch Behörden haben genau damit ein Problem. Seit sieben Jahren wartet Alexander Hagner auf die Baugenehmigung für ein Notquartier. Mal entspricht die Wärmeübergangszahl nicht der EU-Norm, dann die Deckenhöhe nicht der Wiener Bauvorschrift. Auch Gesetze können helfen, wenn man etwas verhindern will.

Bei öffentlichen Anhörungen, wenn der Architekt seine Wohnprojekte für Obdachlose zukünftigen Nachbarn vorstellt, gibt es schon mal Morddrohungen. So groß ist die Angst vor dem, was nebenan einziehen könnte. Auch in Berlin-Hellersdorf kochte ja die Volksseele, als eine Schule in ein Flüchtlingsheim umgewandelt werden sollte.

"Wenn du Spielraum für Phantasie gibst, dann entstehen Monster im Kopf. Man muss den Befürchtungen gleich mit Antworten begegnen", sagt Hagner. Deswegen gab es in der Währingerstraße 19 erst einmal einen Flohmarkt. Hausentrümpelung und Projektvorstellung in einem. Nebenbei bekamen die Anwohner ihre neuen Nachbarn vorgestellt.

Durch die Mitwirkung der Studenten wurde das Projekt akzeptiert

Aber vor allem die Bewohner waren der Grund dafür, dass dieses Mal alle Parteien, links wie rechts, für das Projekt votierten. Studenten lassen sich eben schlecht ausgrenzen. "Man sollte mehr Menschen miteinander denken, die man nicht zwingend zusammen sieht", sagt Hagner.

Für die Anwohner sei es dann leichter, das Projekt zu akzeptieren. Außerdem profitieren die Bewohner davon. Schon in den Siebzigern hat man das versucht. Doch die meisten dieser Projekte scheiterten. Die Sozialromantik war zu groß. Kaum einer dachte an die Konflikte, die vorprogrammiert sind.

Auch in Wien gibt es Streit. Natürlich. Nur dass hier die Architektur dabei mithilft, ihn zu entschärfen. Oder wie Hagner sagt: "Möglichkeiten schafft, um Dampf abzulassen." Das fängt beim Eingang an. Alle Wohnungen sind über drei Wege zu erreichen. Über den weinumrankten offenen Laubengang, das historische Stiegenhaus und einen Lift. Wer sich nicht über den Weg laufen will, muss es nicht.

Auch die Gemeinschaftsküchen, der zentrale Raum auf jeder Etage und in WGs klassischer Ort für Streit, sind so positioniert, dass sie in drei Richtungen verlassen werden können. Und weil man nicht immer Lust auf Gesellschaft hat, besitzt auch jede WG eine Teeküche.

Alte Ledersofas, Songbücher und Filmplakate

Alle Bewohner haben in ihren Zimmern eine Ecke, die mit Holzwolle-Leichtbauplatten, verkleidet ist. Das sieht nicht nur hübsch aus, sondern eignet sich auch zum Festpinnen von Bildern, Fotos, Erinnerungsstücken - und führt zu besserem Schlaf. Holzwolle schluckt Geräusche.

"Gemeinschaft darf kein Zwang sein", sagt Hagner. Platz dafür gibt es aber genug. Angefangen im Keller mit einem Raum für Veranstaltungen, über das Erdgeschoss mit dem Gastgarten und den drei Werkstätten, wo Nachbarn ihre Fahrräder zum Reparieren bringen können.

Dann durch die Laubengänge, Terrassen und gemeinschaftlichen Wohnzimmer, die so aussehen wie in jeder WG: vererbte Ledersofas, aufgeschlagene Songbücher - Neil Young "Tell Me Why" -, Filmplakate an der Wand. Dazu eine Bibliothek und ganz oben eine Dachterrasse mit spektakulärem Blick über Wien. Kritiker warfen dem Projekt vor, dass dies zu viel Luxus sei. Als dürften Obdachlose keinen Anspruch auf schönen Wohnraum haben.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: