Wohnprojekt:Die ganze Welt auf 600 Metern

Javastraat

Seit acht Monaten hat der Filmemacher Marnix Haak die Amsterdamer Javastraat nicht mehr verlassen. Für die SZ hat er seinen Kosmos skizziert. SZ-Grafik

Der Niederländer Marnix Haak verlässt ein Jahr lang seine Straße nicht. Und entdeckt ein völlig neues Leben - mitten in der Großstadt.

Von Fabian Busch

Das Leben von Marnix Haak spielt sich in einer einzigen Straße ab, 600 Meter lang, in Amsterdam gelegen, zwischen der Eisenbahnbrücke, die er niemals überquert, und dem Flevopark, den er nicht betritt. Die Wege des 29-Jährigen sind kurz - aber ein beschäftigter Mann ist er trotzdem noch.

Bevor er erzählt, warum er sein Leben auf eine einzige Straße beschränkt, während alle Welt fürs Wochenende gerne mal um den Globus jettet, muss er noch schnell einen Einkaufswagen zurück zum Supermarkt Albert Heijn bringen. Den Einkaufswagen hatte er sich am Vorabend ausgeliehen, weil er 30 Bewohner seiner Straße zum Suppenabend eingeladen hatte - Menschen, die in den letzten acht Monaten von Unbekannten nebenan zu wirklichen Nachbarn geworden sind.

Die westliche Welt jammert über die Folgen der Globalisierung, über Beschleunigung, Anonymität und Rastlosigkeit. Marnix Haak hat eine 600 Meter lange Straße zu seiner Welt gemacht.

Vorher hatte sein Leben so ausgesehen wie das von Millionen Menschen in europäischen Großstädten: Morgens radelte er zum Bahnhof, um in die Stadt Hilversum zu fahren, wo er beim niederländischen Fernsehen arbeitete. Abends kam er zurück. Danach blieb noch Zeit, die Wäsche zu machen, etwas trinken zu gehen, vielleicht. Zu den Nachbarn hatte er - wenn überhaupt - nur oberflächlichen Kontakt.

Da ist die Frau nebenan, unheilbar krank

Haak sitzt jetzt im Kapuzenpulli auf der Terrasse des Cafés Strong Food, den Einkaufswagen hat er weggebracht, vor sich einen Tee und seine Straße, die Javastraat. Immer wieder bleiben Menschen stehen, grüßen, man kennt sich jetzt.

Wie geht's?"

"Gut, dank dir!"

Seit dem 1. September 2016 hat Marnix Haak die Javastraat im Osten von Amsterdam kein einziges Mal verlassen, zwölf Monate lang will er das durchhalten. Es ist, wenn man so will, sein persönliches Antiglobalisierungsprogramm. "Ich wollte einmal alle Stecker in meinem Leben ziehen", sagt er.

Die Regeln setzte er sich selbst: Falls es einen familiären Notfall oder Trauerfall geben sollte, darf er die Straße ein paar Tage verlassen. Ansonsten muss er mit dem zurecht kommen, was sie bietet. Hausärzte gibt es in der Javastraat zum Beispiel schon, Fachmediziner eher nicht. Besuche verlaufen in seinem Leben seither recht einseitig: Wenn Marnix Haak Freunde treffen will, ist meistens er der Gastgeber. Und zum traditionellen Familientreffen fuhr seine Freundin in diesem Jahr allein.

Jeder kennt jeden, man quatscht

Langweilt das nicht manchmal, die immer gleichen Menschen, Geschäfte, Abläufe? Im Gegenteil. "Ich nehme die Leute hier erst jetzt richtig wahr", sagt Haak. Zum Beispiel seine Nachbarin, die unheilbar krank ist. Oder Wahid, den Mann, der jeden Tag auf einem verzierten Rad laut singend durch die Straße fährt. Diese Menschen leben nur ein paar Häuser weiter, und in einem normalen Großstadt-Alltag hätte er sie gar nicht wahrgenommen, niemals kennengelernt. "Wenn ich in mein Handy schaue, sind die zehn Nummern, die ich zuletzt gewählt habe, von Leuten von hier."

Was er erzählt, klingt auch ein wenig nach Dorfjugendalltag. Jeder kennt jeden, man quatscht, und vor allem: man hilft sich. Genau das ist es, was der Großstädter Haak mit seinem Projekt zeigen will - dass es einem ein gutes Leben bescheren kann, zuhause zu bleiben, selbst als junger Mensch. Wenn man einfach da ist, hinschaut und hinhört. Zur Finanzierung hat Haak die Hilfe des Internets bemüht, er hat über Crowdfunding Geld für den Lebensunterhalt für ein Jahr gesammelt, und die Stadt Amsterdam fand die Idee so gut, dass sie ihm einen kleinen Zuschuss gab, einmalig.

Haak sagt, 600 Meter als Kosmos mag klein erscheinen, aber je länger er blieb, desto größer wurde seine Umgebung im Grunde. Und desto deutlicher zeigte sich, wie schnell sich die Dinge ändern, im Großen wie im Kleinen. Weil er auch nicht mehr in sein Büro fährt, dreht Marnix Haak kleine Filme in seiner Straße. Und ist damit zum Chronisten eines Wandels geworden: Die Javastraat ist weit weg vom touristisch überlaufenen Grachtengürtel, vor einigen Jahren wohnten in der Straße Arbeiter und Migranten. Inzwischen ziehen die geklinkerten Häuser aber auch andere Bewohner an: Studenten, junge Unternehmer, Familien, und am Gehweg wechseln sich jetzt Rollkoffer mit Café-Stühlen ab, Telefonshops mit Läden für Design. "Viertel im Aufschwung" heißt das in Amsterdam.

Immer wieder sind plötzlich Schaufenster mit Brettern vernagelt

Ein Aufschwung, der nicht allen hilft. Einen Imbiss, in dem Haak für eines seiner Videos gelernt hat, Döner-Fleisch zu schneiden, musste schon schließen. Und immer wieder sind plötzlich Schaufenster mit Brettern vernagelt, da, wo am Abend vorher noch ein kleiner Laden war. All das sieht Haak jetzt, seit er bleibt und schaut. "Für mich wird die Gentrifizierung so wirklich fühlbar."

Seine Videos veröffentlicht Haak unter dem Namen "JaffaJaffa" auf Youtube. Er fischt darin mit Anwohnern Plastikfetzen aus Bäumen, lädt sie zum Abendessen ein oder veranstaltet verschiedene Wettbewerbe für Jugendliche. Man klickt sich durch die Videos und versteht: Wahrscheinlich würde der Filmemacher inzwischen einen passablen Stadtteilmanager oder Sozialarbeiter abgeben. Und was ist mit Urlaub? Die meisten seiner Freunde und Bekannten fahren ins Ausland, er aber blieb - selbstverständlich - hier. Er machte drei Tage Urlaub in einer anderen Wohnung in der Javastraat, die Bewohner waren verreist. Er lächelt, als er davon erzählt. "Viele junge Leute reisen mit dem Rucksack nach Thailand, um sich selbst zu finden. Ich sage: Bleib ein Jahr in deiner Straße."

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