Wohnen in der Großstadt:Es wird eng

Lesezeit: 6 min

128 Quadratmeter hat eine fünfköpfige Familie in Deutschland im Durchschnitt zur Verfügung. Doch in boomenden Großstädten wird sich das wohl ändern. Leben auf wenig Raum ist da schon jetzt eine gute Schule für die urbane Zukunft, findet unser Autor. Man muss sich nur mit dem Prinzip Stapel anfreunden.

Essay von Paul-Philipp Hanske

Genau 35 Quadratmeter: So groß war die Wohnung in Regensburg, in der meine Großeltern mit meinem Vater und meinen beiden Tanten wohnten. Die drei Kinder hatten ein zwölf Quadratmeter großes Zimmer. Es waren die 1950er-Jahre, die Wohnungen waren nun mal so, und die Nachbarn hielten es ähnlich. Sieben Quadratmeter pro Person - diese Zahl habe ich also vor Augen, wenn ich im Eingangsbereich unserer 85 Quadratmeterwohnung über Dutzende Paar Schuhe stolpere, es Kämpfe um das Bad gibt oder im Kinderzimmer mal wieder wüste Revierstreitigkeiten toben. Dann imaginiere ich die Grundrisse von Wohnungen, in denen die Zimmer mit "Kind 1", "Kind 2" und "Gäste-WC" bezeichnet sind und die 128 Quadratmeter groß sind. So wohnen fünfköpfige Familien nämlich heute im Durchschnitt in Deutschland.

Ihr Forum
:Worauf würden Sie verzichten, um in der Großstadt wohnen zu können?

Es wird eng in unseren Städten. Neue Formen des Zusammenlebens setzen auf tendenziell weniger Privatwohnraum - dafür mehr Gemeinschaftsräume und (Dach-)Gärten. Stapeln und Teilen verhelfen zu mehr Platz. Sind Sie bereit, Ihre Wohngewohnheiten an neue urbane Herausforderungen anzupassen?

Der Wohnflächenverbrauch hierzulande steigt stetig. 1948 wohnte man durchschnittlich auf zehn Quadratmetern pro erwachsener Person, 1990 auf 38, heute sind es im Schnitt schon 48. Nun bestreitet kein Mensch, dass es angenehm ist, sich überlegen zu müssen, ob man den Nachmittagskaffee lieber im Wohnzimmer, im Salon oder im Garten servieren möchte. Die Frage ist nur: Was ist einem dieser Luxus wert? Und können ihn die ächzenden Städte überhaupt leisten? Wir haben als fünfköpfige Familie entschieden, dass wir weder einen Großteil unseres Monatseinkommens fürs Wohnen ausgeben, noch in die öde Peripherie ziehen wollen. Dass die als Naturgesetz gehandelte Größer-ist-besser-Doktrin vielleicht gar nicht zu uns passt, fiel uns auf, als wir eine Wohnung besichtigten, die tatsächlich zwei Kinderzimmer hatte. Nachher meinte der Neunjährige: "Cool, dann gibt es ein Kinderschlaf- und ein Kinderspiel-Zimmer." Bei der Frage, auf wie vielen Quadratmetern man wohnt, geht es heute aber nicht nur um finanzielle Mittel und Finderglück auf dem Wohnmarkt. Es geht um neue Interpretationen des Zusammenlebens. In der Familie, der Nachbarschaft, der Stadt.

Die Zukunft des urbanen Lebens besteht im Teilen

Wer beengt wohnt, muss sich frei machen. Vor allem von aktuellen Moden. Vom italienischen Designsofa, das auf 15 Quadratmetern im Wohnzimmer versenkt wird. Von der Kochinsel, der Frühstücksbar. Und vor allem: vom Schöner-Wohnen-Ideal einer mit nur sehr wenigen, dafür schicken Möbeln bestückten Wohnung. Vom Diktat des wohnlichen Weißraums, das uns in den Blogs und Magazinen entgegenkommt. Stattdessen herrscht eben Prinzip Stapel. Die Kinder schlafen bei uns gestapelt (in Stockbetten). In der Abstellkammer stapelt sich in Ökokisten, die man längst hätte zurückgeben müssen, Winterkleidung im Sommer und Sommerkleidung im Winter. Auf dem Kühlschrank stapeln sich Tomatendosen, im Bücherregal stapeln sich die Bücherstapel. Es ist übrigens kein Wunder, dass es die besten Stapelmöbel (Hängecontainer, Unterbettkommoden und Auf-dem-Schrank-Kisten) bei der japanischen Einrichtungs-Marke Muji gibt - in Tokio wohnt man auf durchschnittlich 15 Quadratmetern pro Kopf. In Fernost, in Taiwan und in Hongkong ist wegen des knappen Wohnraums der Trend zum sogenannten Microapartment auch am weitesten fortgeschritten. Dafür wird zum Beispiel die Tradition des Klappbetts wiederbelebt. Etwas elaborierter: verschiebbare Wände, mit denen Kleinsträume geschaffen werden können. Eine befreundete Familie hatte das Problem, nur ein (großes) Zimmer für die beiden Kinder zu haben. Die Lösung: Der Vater baute zwei "Baumhäuser" unter die Decke, in denen sich die Betten und ein kleiner Tisch befinden. Die sind so gemütlich, dass die Kinder den Rest des Zimmers kaum noch nutzen. Auch der Sharing-Boom der letzten Jahre kommt uns notgedrungenen Platzsparern zugute. Eismaschinen oder Kantenschleifer muss man nicht mehr selbst besitzen, man kann sie etwa bei Leihdirwas.de für eine geringe Gebühr borgen. Von Menschen, die dafür noch Stauraum hatten.

Also, Platzsparen hört nicht beim Stapeln auf. Es ist jedoch klar, dass die Ausbeute endlich ist. Die Frage: Wie kann man beengt, aber gut wohnen, überschreitet schnell die Grenzen der eigenen Wohnung. Mark Michaeli ist Professor für "Nachhaltige Entwicklung von Stadt und Land" an der TU München. Er ist kein Freund der deutschen Krankheit Landfraß und sehr offen für dichtes Wohnen. Seine Devise mag zunächst banal klingen: "Wenig Wohnraum lässt sich dann aushalten, wenn die Umgebung attraktiv ist." Das ist auch unsere Erfahrung: Einen ganzen Tag zu fünft in der Wohnung hält man nicht aus. Die Kinder müssen auslüften. Gut, dass Parks, Spielplätze und die Isar in der Nähe sind. Zur Not tut es auch der kleine Gemeinschaftsgarten. Michaelis Argument geht aber weiter: "Wir müssen uns fragen, was die 'Zelle des Privaten' ist - das, worauf wir in unseren Wohnungen nicht verzichten können. Vielleicht Schlafzimmer, Küche, Bad. Alles andere kann ausgelagert werden", sagt Michaeli. Es fängt bei der Waschmaschine an. Die stand früher auch in einer gemeinsamen Waschküche. Sich in der Stadt zu behaupten heißt eben auch, Gewohnheiten zu überdenken und auch mal den Komfort zu relativieren. Wer sich auf dem Land in sein Haus zurückzieht, will und kann da alles vorrätig haben: Pool, kinogroßen Fernseher, Espressomaschine etc. Der muss nie mehr raus, Zaun drum, eigenes kleines Fürstentum, fertig. Das sind aber alles Sachen, die man in der Stadt extern genießen kann. Also: abspecken. In Asien wird sogar oft auf die eigene Küche verzichtet - man isst und kocht stattdessen an der Straße. "Auch das Wohnzimmer ist verhandelbar, wenn es Gemeinschaftsräume im Haus gibt, die man bei Bedarf nutzen kann", sagt Michaeli. Dasselbe gilt für einen Garten. "Wieso wollen Familien unbedingt einen Garten? Weil man die Kinder ohne Aufsicht rausschicken kann. Das aber geht auch in einem Gemeinschaftsgarten, sofern er eine Tür hat."

Klingt alles utopisch? Aber derartige Wohnexperimente sind längt Praxis. In Amsterdam, Kopenhagen, Stockholm, auch in der biederen Ostschweiz. In Züricher Wohnprojekten wie "Dreieck" und "Kraftwerk" werden neue Formen des Zusammenlebens erprobt: Auf tendenziell wenig Privatwohnraum - dafür mit Gemeinschaftsräumen und (Dach-)Gärten. Auch sehr praktisch dabei: zumietbare Gästezimmer, die bei Leerstand als Hotelzimmer vermietet werden. Prinzipiell gibt es keine Beschränkung für gemeinsame Tätigkeiten in Genossenschaften, manche haben neben dem Wohnprojekt noch eine Kinderkrippe, eine Hausaufgabenbetreuung oder gar ein eigenes Restaurant.

Zürich hat einen Anteil von 20 Prozent an genossenschaftlichem Wohnraum, ähnlich viel gibt es Hamburg - in München sind es nur fünf. Genossenschaft ist natürlich nicht gleich kollektiv genutzter Wohnraum, aber oft können in Genossenschaften neue Ideen für Stadtwohnen gedeihen. Die Zukunft des urbanen Lebens besteht im Teilen - nicht nur von Autos, sondern auch von privatem und öffentlichem Raum. Schließlich ziehen seit einigen Jahren nicht nur die ganz Jungen in die Städte, sondern auch die Klasse der 25- bis 49-Jährigen, wie einige Studien belegen. Und damit eine Gruppe, die sich bisher zur Familiengründung zum Rand und aufs Land zurückzog. Heute wuselt es auf den städtischen Spielplätzen nur so vor Kindern. In Hamburg, Berlin und München stieg der Anteil der unter-14-Jährigen in vielen Bezirken in den letzten zehn Jahren stetig, und nicht wenige von diesen Kindern werden, so die Prognosen, immer in der Stadt leben wollen. Es wird also eng.

"Stadt ist immer auch erzwungene Koexistenz."

Umso wichtiger ist öffentlicher Raum - ob kollektiv genutztes Eigentum oder tatsächlich kommunale, frei zugängliche Fläche. Was von Urbanisten als Zukunft der Stadt gehandelt wird, ist auch ihre Vergangenheit. Das Konzept der europäischen, durch Stadtmauern beengten Stadt bestand über Jahrhunderte in einer Vermengung von Privatem und Öffentlichem. Walter Benjamin beschrieb das am Beispiel von Neapel als "porösem" Raum: "Existieren, für den Nordeuropäer privateste Angelegenheit, ist hier Kollektivsache. Wie die Stube auf der Straße wiederkehrt, mit Stühlen, Herd und Altar, so, nur viel lauter, wandert die Straße in die Stube."

Diese Beschreibung erinnert mich an die Schilderungen über das Leben meiner Großeltern und ihrer Kinder. Wegen der Enge hielt man sich nämlich oft im Freien oder in fremden Wohnungen auf. Noch heute erzählt meine Tante, dass mein Großvater so gut wie jeden Abend eine etwa zehnköpfige Gruppe Nachbarn im Waschkeller empfing, wo es hoch herging. Das klingt idyllisch und solidarisch, Städtebauer Michaeli sagt aber auch: "Stadt ist immer auch erzwungene Koexistenz." Im öffentlichen Raum der Stadt begegnet man nicht nur lustigen Nachbarn. Hier treffen Frühaufsteher auf Nachtschwärmer, Autofahrer auf Radler, Eltern auf Hundebesitzer und Muslime auf AfD-Wähler. Der soziale und politische Raum Stadt bedeutet immer auch: Konfrontation mit Fremdheit, Aushalten von Belästigung, Reibung, Interaktion. Es ist nicht schwer, in dieser Reibung jene Kraft zu erkennen, die alle wichtigen kulturellen Innovationen der letzten hundert Jahre angestoßen hat.

Dass Stadt nicht nur Lust, sondern auch Ertragen von Last bedeutet, kann aber gerade von den Neuankömmlingen leicht vergessen werden. Die zunehmenden juristischen Klagen gegen Kinderlärm deutet Mark Michaeli als "Suburbanisierung" des städtischen Raums: "Städte sind heute sauberer und ungefährlicher als vor 30 Jahren. Die Klientel, die einst in der Peripherie wohnte, weil sie dort die Ruhe suchte, fühlt sich inzwischen auch in der Stadt wohl. Diese Bürgerschicht bringt aber den Wohnanspruch aus Suburbia mit - vor allem das vermeintliche Recht auf vollkommene Ungestörtheit." Der Boom geschlossener, hochpreisiger Wohnanlagen in beliebten deutschen Großstädten kann so gedeutet werden. Wer aber nicht will, dass die Innenstädte zum sedierten Dorf der Reichen werden, muss bleiben. Zur Not auf wenig Platz.

© SZ vom 27.12.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: