"Wie ich euch sehe" zu Obdachlosen:"Fragen Sie uns, was wir am nötigsten brauchen"

"Wie ich euch sehe" zu Obdachlosen: "Wie ich euch sehe" diesmal aus der Sicht eines Obdachlosen

"Wie ich euch sehe" diesmal aus der Sicht eines Obdachlosen

(Foto: Illustration Jessy Asmus)

Beschimpfungen, ein warmes Essen zur richtigen Zeit und Hilfe von unerwarteter Seite: In einer neuen Folge der Serie "Wie ich euch sehe" erzählt ein Obdachloser aus seinem Leben.

Protokoll von Hannah Beitzer

In unserer Serie "Wie ich euch sehe" kommen Menschen zu Wort, mit denen wir im Alltag zu tun haben, über die sich die meisten von uns jedoch kaum Gedanken machen: ein Sanitäter, eine Kontrolleurin, ein Pfarrer, eine Kassiererin. Sie erzählen, wie es ihnen ergeht, wenn sie es mit uns zu tun bekommen - als Kunden, Patienten, Mitmenschen. Diesmal berichtet ein ehemaliger Obdachloser, wie es sich anfühlt, nicht zur Gesellschaft zu gehören.

"Der Penner": Solche dahingeworfenen Worte mögen wie eine Kleinigkeit wirken, doch für jemanden wie mich sind sie es nicht. Ich habe fast 30 Jahre auf der Straße gelebt und habe dort Sachen erlebt, die Sie sich als bürgerlicher Mensch gar nicht vorstellen können - von Mord und Totschlag bis hin zu größter Freude. Doch egal, in welcher Situation wir uns begegnen: Seien Sie uns gegenüber respektvoll! Denn Respekt hat jeder Mensch verdient - auch, wenn er auf der Straße lebt.

Als Obdachloser wurde ich schon oft beschimpft und sogar angegriffen. Wieder andere beachten einen einfach nicht. Mir geht es da wie den meisten Leuten: Ich freue mich über einen freundlichen Gruß oder ein Lächeln. Häufig merke ich an Kleinigkeiten, dass jemand mich nicht respektiert. Zum Beispiel, wenn ich etwas erzähle und der andere hört gar nicht zu, stellt mir dieselbe Frage zweimal.

Das findet natürlich niemand schön, aber für Obdachlose, die sich ja ohnehin schon aus der Gesellschaft ausgestoßen fühlen, ist es besonders schlimm. Sie müssen wissen: So gut wie jeder Obdachlose hat in seiner Vergangenheit etwas Schlimmes erlebt, eine persönliche Tragödie, die ihn aus der Bahn geworfen hat - ganz egal, ob es sich nun um gebürtige Deutsche handelt oder um Geflüchtete, die auch oft auf der Straße leben. Je länger man auf der Straße lebt, desto mehr versteinert man innerlich, schottet sich ab, fühlt sich nicht willkommen. Viele Obdachlose sind psychisch oder physisch krank, alkoholabhängig oder nehmen Drogen. Und wenn sie es nicht schon sind, dann werden sie es.

Dabei könnten Sie jemandem wie mir schon mit Kleinigkeiten helfen! Wenn Sie einen Obdachlosen sehen, gehen Sie doch einfach mal zum Bäcker und kaufen zwei Brötchen, eins mit Wurst und eins mit Käse. Und dann fragen Sie ihn: "Möchten Sie sich eins aussuchen?" Sie können sich nicht vorstellen, wie schön so eine Möglichkeit für jemanden ist, der sonst in seinem Leben nie eine Wahl hat. Viele Leute rümpfen die Nase, weil Obdachlose oft schmuddelige Klamotten anhaben. Wenn Sie aber jemanden mit abgetragenem T-Shirt sehen, dann gehen Sie doch einfach mal in den nächsten Laden und kaufen ihm ein neues.

Es gibt im Leben eines Obdachlosen natürlich auch Situationen, in denen Geld am allernötigsten ist. Ob Sie etwas geben, müssen Sie selbst entscheiden. Das Allerbeste aus meiner Sicht ist: Fragen Sie uns, was wir brauchen! Manchmal ist es Geld, manchmal eine Mahlzeit, manchmal ein neuer Pulli. Das als Obdachloser selbst entscheiden zu dürfen, stärkt unser Selbstwertgefühl enorm.

Hilfe von unerwarteter Seite

Hilfe kommt für uns übrigens oft von Leuten, von denen es nicht jeder erwarten würde. Zum Beispiel leben junge Mädchen auf der Straße besonders gefährlich. Deswegen schließen sie sich häufig Gruppen von Punks an, die bieten ihnen Schutz.

Ich hatte vor einigen Jahren eine ähnliche Situation. Ich war mit meinem Rucksack unterwegs, als mich plötzlich eine Jugendgang verfolgte. Einer der Jungs zog ein Messer und bedrohte mich, sie wollten mich abziehen. Plötzlich kam ein riesiger Typ um die Ecke, ein Rocker von den Hells Angels. Er hat dem Anführer der Gang klargemacht, dass hier nichts zu holen ist. Die Jungs verschwanden. Der Hells-Angels-Rocker hat mir geholfen, ohne es zu müssen. Dafür bin ich ihm noch heute dankbar.

Warum Obdachlose so schwer von der Straße kommen

Doch das war nicht alles. Der Rocker nahm mich mit in eine Kneipe, spendierte mir etwas zu essen und zu trinken und sagte: "Bleib einfach eine Weile, hier bist du sicher." Nun müssen Sie es natürlich nicht gleich allein mit einer ganzen Jugendgang aufnehmen. Aber Sie müssen die Polizei rufen, wenn Sie einen Übergriff beobachten!

Viel zu viele Menschen sehen oder laufen einfach weg, wenn sie einen Obdachlosen in Not sehen. Dabei hat ja heutzutage wirklich jeder ein Handy. Und wenn Sie einem Obdachlosen einfach mal einen Kaffee oder ein kleines Essen spendieren, so dass er eine Weile im Café sitzen kann, dann machen Sie ihm eine riesige Freude. Auf der Straße muss er immer wachsam sein, eine Weile in einem geschützten Raum tut da einfach gut.

Einem Obdachlosen hingegen dauerhaft zu helfen, ihn gar von der Straße zu holen, ist sehr schwer. Die Zeit auf der Straße hinterlässt Spuren, gesundheitlich und psychisch. Sie müssen sich einen Menschen wie mich vorstellen wie ein Flussbett: Irgendwann einmal, früher, war das Flussbett voller Wasser, es gab dort Pflanzen und Fische. Dann ist das Wasser nach und nach versiegt, das Flussbett ist leer. Obdachlose fühlen sich oft leer, einsam.

Dagegen anzukämpfen ist sehr mühsam. Schon viele Sozialarbeiter haben versucht, mich sesshaft zu machen - und sind gescheitert. Wer mit einem Menschen wie mir zu tun hat, der muss sich darauf einstellen, dass es erst einmal mehr Enttäuschungen als Erfolge gibt. Das hält fast kein Außenstehender durch. Aber bitte gebt dann nicht gleich auf, sondern glaubt an uns. Auch wenn es nicht immer leicht ist.

Menschen wie wir sind aufgrund ihrer schlechten Erfahrungen misstrauisch und rechnen insgeheim immer damit, dass es der andere ohnehin nicht ernst meint. Das liegt nicht daran, dass wir alle dumm sind oder nichts können, im Gegenteil. Unter den Obdachlosen sind viele hochgebildete Menschen. Jeder von uns hat bestimmte Talente. Sie sind nur unter unserer Angst vergraben.

Helmut Richard Brox lebte 29 Jahre auf der Straße. Der 53-Jährige hat die Ratgeberseite http://ohnewohnung-wasnun.blogspot.de/ ins Leben gerufen, seit einem Jahr hat er eine Wohnung. Im Dezember erscheint seine Biografie "Kein Dach über dem Leben".

Wie nehmen Sie die Menschen wahr, mit denen Sie sich aufgrund Ihrer persönlichen Lebenssituation oder Ihres Berufes tagtäglich auseinandersetzen? Was wollten Sie in der Hinsicht schon immer einmal loswerden? Senden Sie ein paar Sätze mit einer kurzen Beschreibung per E-Mail an: leben@sueddeutsche.de. Wir melden uns bei Ihnen.

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